Der Roman Austerlitz (2001) von Winfried G. Sebald
ist das bedeutendste Beispiel für die literarische Behandlung der deutschen
Vergangenheitsschuld. Das Sehen beziehungsweise das unzulängliche Sehen spielt darin eine
große Rolle.
In Austerlitz wird eine Philosophie des unzureichenden
Sehens im Hinblick auf Vergangenheit und Erinnerung entwickelt, eine Art
Sebaldsche Unschärferelation. Je näher man hinzuschauen versucht, desto
undeutlicher wird das Gesehene. Als Erwachsener begibt Austerlitz sich auf die
Suche nach seinen wirklichen Eltern. Die Bruchstücke seiner Erinnerung treiben
ihn in durch Europa, in einer um das schwarze Loch Deutschland herum kreisenden
Bewegung, bis er in Prag die richtige Spur findet. Immer wieder spielt bei
dieser Suche das unzureichende Sehen und Erkennen eine Rolle, bis zum Höhepunkt
der auf Film und Foto festgehaltenen Bilder seiner Mutter in Theresienstadt,
die sich in Zeitlupe und Vergrößerung in unscharfe Pixel auflösen.
Sebald ergänzt
seinen Text mit Dutzenden von Fotos, die Austerlitz‘ Suche und Erinnerung dokumentieren
und das Unschärfesyndrom demonstrieren. Am Anfang des Romans werden alle Motive
wie in einer Ouvertüre angespielt. Gleich die ersten vier Abbildungen sind dem
Motiv des Sehens gewidmet: zwei Fotos der großen Augen von Nachttieren mit
besonderem Sichtvermögen und zwei von den Augen von Menschen mit gesteigerter
Erkenntnisfähigkeit. Bei letzteren handelt es sich um die Augen des Philosophen
Ludwig Wittgenstein und des Malers Jan Peter Tripp, der ein Freund Sebalds war.
Sebald fährt hier
sozusagen die Wahrnehmungs- und Erkenntnisspezialisten der Tier- und
Menschenwelt auf, aber nur, um sie schon im nächsten Moment wieder in Frage zu
stellen.
Leider war „Austerlitz“
Sebalds letzter Roman. Der Autor ist
kurz nach der Fertigstellung bei einem Autounglück ums Leben gekommen.
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