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Dienstag, 7. August 2012

“Granatsplitter”. Karl Heinz Bohrers Scherbengericht


Am Anfang regnet es bunte Steine vom Himmel. Steine? Nein, es sind Granatsplitter der deutschen Flak, die 1940 die englischen Bomber über Köln vom Himmel schiesst. Eines Morgens sind sie da, und ein kleiner Junge sammelt diese bunten Steine, pardon: Metallscherben und legt sie in ein Kästchen. Er wird sie jahrelang mit sich tragen.

Der Rezensent merkt die Absicht und ist verstimmt: Hat nicht der alte Karl Heinz Bohrer in seinem Postscriptum geschrieben: “Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren” (316). Dass der Junge die Granatsplitter für Steine hält, will ich nicht so recht glauben. Ist es nicht eher so, dass der Literaturwissenschaftler Bohrer gleich in der Ouvertüre eine poetologische Reminiszenz zu Adalbert Stifters “Bunte Steine” einbaut?

Köln 1945
Bohrer erzählt, die Ich-Form meidend, anhand des “Jungen” seine eigene Schul- und Bildungsgeschichte, die sich zunächst in Köln abspielt. Der Vater ist ein weltläufiger Herr, der seinen Abscheu vor den Nazis auf den Sohn überträgt. Nach Kriegsende quält sich der Dreizehnjährige, der durch die Berichte von den Nürnberger Prozessen eine Ahnung vom Ausmaß der Verbrechen erhalten hat, mit langen Gesprächen und Überlegungen zur Schuldfrage. Er selbst war von der Schneidigkeit und Tapferkeit der deutschen Soldaten beeindruckt gewesen, er selbst hatte den Terror erlebt, den die Bombenangriffe auf die Bevölkerung von Köln ausgeübt hatten, er selbst kommt aber zu dem Schluss, dass große Teile des deutschen Volkes schuldig sind und schlägt seinem Vater eine rabiate Lösung vor:

“Warum urteilen diejenigen, die wie der Vater dachten, nicht selbst über all diese Verbrecher? Am besten wäre es doch, wenn sie sich alle zu einer Partei zusammenschließen würden? Und die anderen, auch wenn es die meisten waren, würden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Eigentlich wäre es das Beste, wenn man die Mörder erschießen würde. Das wäre eine moralische Veränderung. […] Eigentlich  war gar kein Prozess erforderlich. Alle Mörder gehörten erschossen” (122).

Die Seiten mit diesen Überlegungen gehören zu den besten des Buches, in denen Bohrer sich intensiv bemüht, nur das zu schreiben, “was sein Held wissen und denken kann”.

Im zweiten Teil der Erzählung schickt der Vater, ein klassisch gebildeter Nationalökonom, seinen Sohn auf die Internatsschule Birklehof im Schwarzwald, eine Schwesterschule von Salem. Im Krieg zeitweise geschlossen, war das Internat Ende 1946 unter dem neuen Direktor Georg Picht wieder eröffnet worden. Die Jahre 1947-1952 sind die entscheidenden Bildungsjahre Bohrers auf dieser Schule und nehmen den Hauptteil des Buches ein.

Die Zusammensetzung der Lehrerschaft entspricht dem Zustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft: idealistische und antinazistische Pädagogen wie der Religionsphilosoph Picht, handverlesene ehemalige Nazis, die unter Hitler teils in hohen Universitätspositionen gesessen hatten, aber dort nicht mehr unterrichten durften, und eine preußische Gräfin aus dem Widerstand. Der familiäre Hintergrund der Schüler sieht ähnlich aus: Wie Salem war auch der Birklehof eine Eliteschule.

Der Schulalltag, die Lehrertypen, der Unterricht: Wir erhalten ein unterhaltsames Bild von den Qualitäten des deutschen klassischen Gymnasiums. Neben den europäischen Klassikern liest der Junge aus eigenem Antrieb zeitgenössische Literatur, unter anderen Sartre und Hemmingway, die ihn sehr beeindrucken. Außerdem sieht er französische Filme, La Belle et la Bête, Orphée, die ihn begeistern – der Birklehof befand sich in der französischen Besatzungszone.

Auffällig ist, dass die zeitgenössische deutsche Literatur nicht vorkommt, kein Name aus der Gruppe 47, auch kein Schmidt, kein Koeppen und kein neuer Titel der Schriftsteller der älteren Generation. Als der Junge bei einer Theatervorstellung von “Nathan der Weise” einspringen muss und seinen Text, den er in der Eile nicht mehr lernen konnte, vorlesen soll, kommt er mit den Seiten und Auftritten durcheinander. “Schließlich half er sich aus der Klemme, indem er jede erledigte Seite aus dem Reclamheft herausriss und mit großer Gebärde hinter sich warf”(178).

Ist das jetzt ein Zufall, diese symbolträchtige Handlung, die deutsche Literatur in Fetzen hinter sich zu werfen? Ich kann es nicht glauben. Obwohl der Junge sich entschließt, in Köln Germanistik zu studieren, hat sein Sehnen eine andere Richtung. Er kriegt in Köln keinen Kontakt zu den Kommilitonen, auch nicht zum gleichaltrigen Jürgen Becker, dem einzigen deutschen Nachkriegsschriftsteller, der in diesem Buch genannt wird. Nein, er will nach England. Der letzte Absatz des zweiten Teils lautet:

“Er hatte diese Landschaft im äußersten Westen gerne […] die lang sich hinziehende Landstraße mit den Pappeln auf beiden Seiten, direkt in Richtung auf die Belgische Grenze, ließ ihn denken: Das ist der unendliche Westen. Da ist der Horizont nie zu Ende. Das Wort ‘Westen’ hatte es in sich. Es bedeutete ihm das Meer. […] Dass die zertrümmerte Heimatstadt die letzte große Stadt im Westen war, war jedenfalls zur Zeit noch das Beste an ihr.”275)

Im kurzen dritten Teil wird London dann für den Jungen zur kulturellen Apotheose. Er fährt in den Semesterferien zum Geldverdienen nach England und gerät zufällig an einen Herrn aus der Upper Class, der ihm Zugang zu den Clubs und zum House of Commons verschafft. Die Eindrücke von der Macht und Kultur des jahrhundertealten Kolonialreiches sind überwältigend. Mit mehrwöchiger Verspätung kehrt er nach Deutschland zurück und nimmt sein Studium wieder auf.

Die bunten Steine lässt er hinter sich. Karl Heinz Bohrers Leben ist dann allerdings doch nicht so verlaufen, wie die beschriebenen Prägungen des Jungen hätten vermuten lassen. Er ist ja trotz alledem noch ein Germanist geworden, in Deutschland, und ein bedeutender dazu! Aber seit seiner Emeritierung 1997 wohnt er in London, Paris, Stanford, den kulturellen Kapitalen der westlichen Alliierten. Erst der alte Bohrer nähert sich in dieser “Phantasie einer Jugend” (Postscriptum, 316) mit den Mitteln der “poetischen Erinnerung” wieder dem jungen an. Dieses Buch ist Bohrers nachträgliches Scherbengericht, mit Deutschland und mit sich selbst. Das muss ihm sehr am Herzen gelegen haben. Das Versöhnlerische an Lessings Nathan hatte dem Jungen missfallen (vgl. 179). Es fiel ihm leicht, “mit großer Gebärde” die Seiten herauszureißen und dieses Paradestück des deutschen Bildungskanons hinter sich zu lassen. Ist der emeritierte Karl Heinz Bohrer mit seinen pragmatischen Lebensentscheidungen unzufrieden, und lässt er deshalb den kompromissloseren Jungen poetisch wieder auferstehen?

1 Kommentar:

  1. Gefällt mir gut, die Rezension. Bin gerade in der "Bildugsphase" des Buches. Bei einigen der Charaktere, die nur mit Vornamen benant sind, würde ich gerne wissen, wer sie sind, und was sie jetzt machen. Dadurch würde ein besseres Gesamtbild der geschilderten Nachkriesgszeit entstehen. Alles sehr interessant!

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