Am Anfang regnet es bunte Steine vom Himmel. Steine? Nein,
es sind Granatsplitter der deutschen Flak, die 1940 die englischen Bomber über
Köln vom Himmel schiesst. Eines Morgens sind sie da, und ein kleiner Junge
sammelt diese bunten Steine, pardon: Metallscherben und legt sie in ein
Kästchen. Er wird sie jahrelang mit sich tragen.
Der Rezensent merkt die Absicht und ist verstimmt: Hat nicht
der alte Karl Heinz Bohrer in seinem Postscriptum geschrieben: “Der Erzähler
sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das was sein Held
selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren” (316). Dass der Junge
die Granatsplitter für Steine hält, will ich nicht so recht glauben. Ist es
nicht eher so, dass der Literaturwissenschaftler Bohrer gleich in der Ouvertüre
eine poetologische Reminiszenz zu Adalbert Stifters “Bunte Steine” einbaut?
Köln 1945
|
“Warum urteilen diejenigen, die wie der Vater dachten, nicht
selbst über all diese Verbrecher? Am besten wäre es doch, wenn sie sich alle zu
einer Partei zusammenschließen würden? Und die anderen, auch wenn es die
meisten waren, würden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Eigentlich
wäre es das Beste, wenn man die Mörder erschießen würde. Das wäre eine
moralische Veränderung. […] Eigentlich
war gar kein Prozess erforderlich. Alle Mörder gehörten erschossen”
(122).
Die Seiten mit diesen Überlegungen gehören zu den besten des
Buches, in denen Bohrer sich intensiv bemüht, nur das zu schreiben, “was sein Held
wissen und denken kann”.
Im zweiten Teil der Erzählung schickt der Vater, ein klassisch
gebildeter Nationalökonom, seinen Sohn auf die Internatsschule Birklehof im
Schwarzwald, eine Schwesterschule von Salem. Im Krieg zeitweise geschlossen,
war das Internat Ende 1946 unter dem neuen Direktor Georg Picht wieder eröffnet
worden. Die Jahre 1947-1952 sind die entscheidenden Bildungsjahre Bohrers auf
dieser Schule und nehmen den Hauptteil des Buches ein.
Die Zusammensetzung der Lehrerschaft entspricht dem Zustand
der deutschen Nachkriegsgesellschaft: idealistische und antinazistische
Pädagogen wie der Religionsphilosoph Picht, handverlesene ehemalige Nazis, die
unter Hitler teils in hohen Universitätspositionen gesessen hatten, aber dort
nicht mehr unterrichten durften, und eine preußische Gräfin aus dem Widerstand.
Der familiäre Hintergrund der Schüler sieht ähnlich aus: Wie Salem war auch der
Birklehof eine Eliteschule.
Der Schulalltag, die Lehrertypen, der Unterricht: Wir
erhalten ein unterhaltsames Bild von den Qualitäten des deutschen klassischen
Gymnasiums. Neben den europäischen Klassikern liest der Junge aus eigenem
Antrieb zeitgenössische Literatur, unter anderen Sartre und Hemmingway, die ihn
sehr beeindrucken. Außerdem sieht er französische Filme, La Belle et la Bête,
Orphée,
die ihn begeistern – der Birklehof befand sich in der französischen
Besatzungszone.
Auffällig ist, dass die zeitgenössische deutsche Literatur
nicht vorkommt, kein Name aus der Gruppe 47, auch kein Schmidt, kein Koeppen
und kein neuer Titel der Schriftsteller der älteren Generation. Als der Junge
bei einer Theatervorstellung von “Nathan der Weise” einspringen muss und seinen
Text, den er in der Eile nicht mehr lernen konnte, vorlesen soll, kommt er mit
den Seiten und Auftritten durcheinander. “Schließlich half er sich aus der
Klemme, indem er jede erledigte Seite aus dem Reclamheft herausriss und mit
großer Gebärde hinter sich warf”(178).
Ist das jetzt ein Zufall, diese symbolträchtige Handlung,
die deutsche Literatur in Fetzen hinter sich zu werfen? Ich kann es nicht
glauben. Obwohl der Junge sich entschließt, in Köln Germanistik zu studieren,
hat sein Sehnen eine andere Richtung. Er kriegt in Köln keinen Kontakt zu den
Kommilitonen, auch nicht zum gleichaltrigen Jürgen Becker, dem einzigen
deutschen Nachkriegsschriftsteller, der in diesem Buch genannt wird. Nein, er
will nach England. Der letzte Absatz des zweiten Teils lautet:
“Er hatte diese Landschaft im äußersten Westen gerne […] die
lang sich hinziehende Landstraße mit den Pappeln auf beiden Seiten, direkt in
Richtung auf die Belgische Grenze, ließ ihn denken: Das ist der unendliche
Westen. Da ist der Horizont nie zu Ende. Das Wort ‘Westen’ hatte es in sich. Es
bedeutete ihm das Meer. […] Dass die zertrümmerte Heimatstadt die letzte große
Stadt im Westen war, war jedenfalls zur Zeit noch das Beste an ihr.”275)
Im kurzen dritten Teil wird London dann für den Jungen zur kulturellen
Apotheose. Er fährt in den Semesterferien zum Geldverdienen nach England und gerät
zufällig an einen Herrn aus der Upper Class, der ihm Zugang zu den Clubs und
zum House of Commons verschafft. Die Eindrücke von der Macht und Kultur des
jahrhundertealten Kolonialreiches sind überwältigend. Mit mehrwöchiger
Verspätung kehrt er nach Deutschland zurück und nimmt sein Studium wieder auf.
Die bunten Steine lässt er hinter sich. Karl Heinz Bohrers
Leben ist dann allerdings doch nicht so verlaufen, wie die beschriebenen
Prägungen des Jungen hätten vermuten lassen. Er ist ja trotz alledem noch ein Germanist
geworden, in Deutschland, und ein bedeutender dazu! Aber seit seiner
Emeritierung 1997 wohnt er in London, Paris, Stanford, den kulturellen
Kapitalen der westlichen Alliierten. Erst der alte Bohrer nähert sich in dieser
“Phantasie einer Jugend” (Postscriptum, 316) mit den Mitteln der “poetischen Erinnerung” wieder dem jungen an. Dieses Buch ist Bohrers nachträgliches Scherbengericht,
mit Deutschland und mit sich selbst. Das muss ihm sehr am Herzen gelegen haben.
Das Versöhnlerische an Lessings Nathan hatte dem Jungen missfallen (vgl. 179).
Es fiel ihm leicht, “mit großer Gebärde” die Seiten herauszureißen und dieses
Paradestück des deutschen Bildungskanons hinter sich zu lassen. Ist der
emeritierte Karl Heinz Bohrer mit seinen pragmatischen Lebensentscheidungen unzufrieden,
und lässt er deshalb den kompromissloseren Jungen poetisch wieder auferstehen?
Gefällt mir gut, die Rezension. Bin gerade in der "Bildugsphase" des Buches. Bei einigen der Charaktere, die nur mit Vornamen benant sind, würde ich gerne wissen, wer sie sind, und was sie jetzt machen. Dadurch würde ein besseres Gesamtbild der geschilderten Nachkriesgszeit entstehen. Alles sehr interessant!
AntwortenLöschen