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Dienstag, 28. August 2012

Jan Brandt gegen die Welt – Ein Leserblog von Peter Groenewold


Ich habe letztes Jahr zwischen August und November in meinem alten Blog einen fortlaufenden Bericht zu meiner Lektüre des 900-Seiten-Romans Gegen die Welt von Jan Brandt geschrieben. Da ich den Roman sehr schätze, bringe ich mein Leserblog hier noch einmal (allerdings ohne die Fotos):

Jan Brandt gegen die Welt (0): Ein Leeraner geht in die Vollen

Wie jede Stadt hat auch Leer in Ostfriesland einige Schriftsteller hervorgebracht. In den Nachkriegsgenerationen gehört offenbar eine längere Lebensportion in Berlin dazu, die ostfriesischen Wurzeln junger Männer zum Blühen zu bringen. Das ist nun mit einem Jungen geschehen, der mit 36 in Berlin immer noch so aussieht, wie ich mit 18 in Leer, bevor ich in Berlin meine Haare wachsen ließ. Rein äußerlich ist ihm also nicht anzusehen, was er mir und anderen Leeranern voraus hat. Der Junge heißt Jan Brandt.

Aber hier hat sich offenbar etwas ganz Starkes ereignet: der Junge hat einen fast 1000seitigen Debütroman geschrieben, der im fiktiven Dorf Jericho in Ostfriesland spielt. Er nennt ihn „Gegen die Welt“. Das ist derart kühn, dass ich ihn unbedingt lesen möchte. Da ich kein Rezensionsexemplar davon erhalten habe, muss ich aber bis zum 24. August warten oder zwei Tage länger, bis mir Amazon das Ding schickt. Inzwischen steht das Ungetüm sogar auf der Longlist für den deutschen Buchpreis. Und wie soll ich die tausend Seiten bloß einplanen? Am selben Tag erscheint der neue Roman eines weiteren Leeraner Schriftstellers!

Jan Brandt gegen die Welt (1): Über der Wortwolke

Heute ist es angekommen. Irgendwie gefällt es mir auf Anhieb sehr gut. Ein dickes Buch: 927 Seiten! Ich habe es ausgepackt, habe dabei wie immer mit der Zellophanhülle gekämpft, habe es beäugt und berochen und dann den Schutzumschlag entfernt.

Zur Fortsetzung bitte "Weitere Informationen" anklicken:




Das mache ich immer, um kurz den Einband und die Rückenprägung zu begutachten. Hier wartete die erste Überraschung auf mich: ein Einband aus starkem, braunroten Karton, der auf Vorder- und Rückseite und auch auf dem Rücken durchgehend mit 21 Zeilen kleingedruckter weißer Wörter bedruckt ist. Ganz offenbar sind das alles wichtige wiederkehrende Wörter aus dem Roman, eine Wortwolke ohne Größenunterschiede.

Ganz oben auf dem Buchrücken steht „Perry Rhodan“, ganz unten „Hypertext-Transfer-Protokol“, auf der Vorderseite finden sich noch mehr oder weniger verständliche Wörter wie „Tiefflieger“, „Procapillaris“ oder „Ratten“; auch ein ostfriesisches Wort, das ich seit fünfzig Jahren nicht mehr gehört und gesehen habe: „Konfitje“.

Beim Aufschlagen folgte die nächste Überraschung: Auf der üblichen Seite 7 steht der Titel des Romans: „Gegen die Welt“. Die Seiten 8-13 tragen zwar eine Seitenzahl, sind aber völlig blanco. Auf Seite 14 beginnt ein vierseitiges Typoskript mit handschriftlichen Zusätzen, ein Brief ohne Absender vom 9. August 1999 an Bundeskanzler Schröder, in dem der Verfasser auf merkwürdige, offenbar außerirdisch gesteuerte  Geschehnisse im ostfriesischen Ort Jericho hinweist und den Kanzler zum Eingreifen auffordert.

Danach beginnt der erste Teil des Romans, der die Überschrift „Science Fiction“ trägt.

Als der sehr umfangreiche Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace auf Deutsch erschien, haben  Freunde des Buches oder des Verlages ein hunderttägiges Blog eingerichtet, um darin von ihrem fortschreitenden Lesevergnügen zu berichten (www.unendlicherspass.de ). Ich werde ein Gleiches mit Brandts „Gegen die Welt“ tun und von jetzt an jeden Tag von einem Kapitel aus diesem Roman berichten. Natürlich sind alle Leser dieses Blogs aufgefordert, darin mitzumischen, egal, ob sie nun das Buch zur Hand haben oder nicht.

Jan Brandt gegen die Welt (2): Wir sind in Ihrhove

Der Roman „Gegen die Welt“ beginnt im Jahre 1982, im ersten Schuljahr von Daniel Kuper, der Hauptfigur, die ein Alter Ego des Autors Jan Brandt zu sein scheint. Am Ende des ersten Kapitels werden wir durch einen erzählerischen Trick mit dem Dorf bekannt gemacht, in dem Daniel aufgewachsen ist. Daniel schaut aus dem Dachfenster seines Elternhauses und entweder er oder eher der Erzähler imaginiert: „Würde man von dort auf den First klettern, hätte man einen Überblick über das ganze Dorf.“ Was folgt, erinnert optisch an die schöne Kamerafahrt am Anfang von Once Upon a Time in the West, in der die Kamera sich über das Bahnhofsgebäude erhebt und einen Panoramablick auf das klägliche, aber betriebige Dorf eröffnet. Hier ist es eine ganze Seite mit einem detaillierten Überblick über das Dorf, mit so vielen konkreten Angaben, dass es sich geografisch eindeutig identifizieren lässt: wir sind in Ihrhove, nur einige Kilometer südlich von Leer, das im Roman offenbar nur als „die Kreisstadt“ vorkommt; Ihrhove mit dem stillgelegten Bahnhof an der Bahnlinie nach Holland bzw. Papenburg, nicht weit von der Ems, auf der zweimal im Jahr die riesigen Kreuzfahrtschiffe der Meyer-Werft Richtung Nordsee ziehen.

Jericho, wie Ihrhove im Buch heißt, ist also kein fiktives Dorf. Alle Straßennamen und Landschaftselemente sind real, die Namen bestimmter Institutionen, Schulen zum Beispiel, werden neu erfunden. Beim neugierigen Herumblättern bin ich auf ein Veranstaltungsposter des Wilhelmine-Siefkes-Gymnasium in Leer gestoßen. Edzardstraße 3. Das gibt es nicht, die Straße wohl: da habe ich gewohnt.

Und so sind mir mehr Besonderheiten aufgefallen: ab und zu gibt es Abbildungen, Reklame, Poster. In einem Teil des Buches sind die Seiten durch einen horizontalen Strich in zwei Erzählebenen geteilt, am Ende gibt es eine Passage, in der nur ein bis zwei Sätze auf jeder Seite stehen und – und da dachte ich schon, man habe mir ein fehlerhaftes Exemplar verkauft – im vorletzten Kapitel finden sich reihenweise Textstellen, in denen der Druck zum Teil fast bis zur Unlesbarkeit verblasst. Das scheint aber mit dem Bewusstseinszustand der Hauptfigur zu tun zu haben, ein schöner Einfall, den ich so noch nie gesehen haben. Ach ja, und das Buch endet mitten in einem Satz.

Übrigens: ich habe, glaube ich, mein ganzes Leben keinen Fuß in das Dorf Ihrhove gesetzt.

Jan Brandt gegen die Welt (3): Perry Rhodan und die Kornkreise

Der zehnjährige Daniel Kuper ist ein begeisterter Perry-Rhodan-Leser. Er liest gleichzeitig in den verschiedenen Zyklen dieser weltgrößten Science-Fiction-Serie, die in den achtziger Jahren bereits in verschiedenen Auflagen nebeneinander an jedem Zeitschriftenkiosk ausliegen. Die technischen und psychischen Allmachtinstrumente beherrschen seine Phantasie.

Nun begab es sich, dass in einem Maisfeld bei Ihrhove 1986, im Jahre von Tschernobyl, ein Kornkreis auftauchte, was man bis dahin nur aus englischen Gefilden kannte. Der junge Daniel ist auf mysteriöse Weise mit diesem Phänomen verbunden. Der September 1986 ist ein merkwürdiger: es schneit, und mitten im Schneeballgetümmel geschieht etwas mit Daniel, das den Leser verstört: „Seine Augen waren kristallisiert und reflektierten das Licht tiefgekühlter Sonnen. Die Temperatur von minus neunhunderteinundsechzig Grad Celsius war fast erreicht. Er stand im Bann des Psychofrosts, sein Bewusstsein erstarrte, und er dachte immer und immer wieder denselben Satz, dass er die Eisigen vernichten müsse, bevor sie ihn vernichteten“ (S. 83).

Retardierende Seiten später taucht Daniel halb nackt und verstört zuhause auf und faselt etwas von Feld, Lichtung, Mais. Im Kornkreis ist etwas mit ihm geschehen. Diese Nachricht zieht die nationalen und internationalen Medien an, ein Pilgerstrom von Mystikern und Ufologen nach Ihrhove setzt ein, die den „Ufo-Jungen“ sehen wollen. Die Polizei sperrt das Feld ab, das Jagdgeschwader 71 aus Wittmund schickt Tornado-Bomber, die Talkshows talken – herrlich ein Gespräch von Wolf Schneider von der NDR-Talkshow mit einem Ufologen – sogar das DDR-Fernsehen bringt etwas dazu. Jan Brandt gelingt es wunderbar, die Kreise, die der Rummel von der privaten und dörflichen Aufregung in Ihrhove bis zum großen Medienzirkus zieht, in eindringlichen Szenen zu erfassen. Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich hat es den Kornkreis und den Rummel damals tatsächlich gegeben. Diese Geschichte hängt seitdem an Daniel, egal ob die Ihrhover an die Kornkreistheorie glauben oder nicht.

Wohin soll uns das führen?, dachte ich nach diesem Kapitel. Und ich muss schon mal zugeben, dass mein Vorhaben, jeden Tag ein Kapitelchen zu lesen und davon zu berichten, nicht funktioniert hat. Ich habe schon ein ganzes Stück weitergelesen und kann verraten: es kommen glanzvolle Passagen, voller Ernst und Humor, dieser Roman ist ein außerordentlicher.

Jan Brandt gegen die Welt (4): Konfitje mit Ohrfeigen

Jan Brandts Beschreibung einer Stunde Konfirmandenunterricht bei dem evangelisch-reformierten Pastor Meiners gehört zum Komischsten, was ich seit langem gelesen habe. „Konfitje“, ein Wort, das ich seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gehört habe, war und ist immer noch das Wort, das die Gemeindejugend dafür gebrauchte: für den „freiwilligen“ und wegen seiner Langeweile verhassten Unterricht, zu dem man von seinen Eltern geschickt wurde, weil es zum gesellschaftlichen Bon Ton gehörte, sich konfirmieren zu lassen.

Thema der Stunde (Gegen die Welt, 175-204) sind die vier Evangelien und ihre Unterschiedlichkeit, obwohl sie doch alle das Wort Gottes sind. Der Pastor versucht ein langsam aufbauendes Unterrichtsgespräch und scheitert an der unbewussten und – im Falle der Hauptfigur Daniel Kuper – bewussten Renitenz seiner Schüler. In der Pause muss sich der alkoholsüchtige Geistliche mit Klosterfrau Melissengeist besänftigen, vergebens: in der zweiten Hälfte steigert er sich in eine fundamentalreligiöse Rage hinein und verdammt den gottlosen Daniel, ja, er verpasst ihm zwei schallende Ohrfeigen und stürzt sich gar auf ihn. Die sprachliche Steigerung bis zum kuriosen Höhepunkt sind ein erzählerisches Glanzstück, gerade weil darin nichts wirklich überzogen oder unrealistisch ist: so konnte Konfitje sein. In meinen eigenen Erinnerungen vom Konfirmandenunterricht an der evangelisch-reformierten Kirche in Leer sind noch gerade drei Fragmente erhalten: die plötzlichen, heftigen Ohrfeigen, die der Pastor austeilte, seine kuriose Stunde, in der er mit den Jungen über die Mädchen und mit den Mädchen über die Jungen sprechen wollte (dadurch fiel für mich immerhin eine Stunde aus) und die salbungsvolle Art, mit der er uns über seine entbehrungsreichen Abende berichtete, an denen er in jahrelanger Arbeit seine Doktorarbeit vollbracht hatte.

Jan Brandt gegen die Welt (5): Ihrhove als Vorlage, Jericho als Programm

Der Vergleich mit Uwe Johnson in der ersten ausführlichen Rezension von „Gegen die Welt“ im Hamburger Abendblatt war mir vor meiner eigenen Lektüre etwas kühn und hoch gegriffen erschienen. Und da ich damals in den siebziger Jahren bei den „Jahrestagen“ im ersten von vier Bänden steckengeblieben bin, hat es jetzt auch etwas gedauert, bis bei mir der Groschen gefallen ist: der fiktive Ort aus Johnsons Jahrestagen heißt „Jerichow“, und Jan Brandts ostfriesisches „Jericho“ repräsentiert und wiederholt ein kühnes und hoch greifendes Programm. Wie Johnson führt er uns in epischer Breite und erzählerischer Polyphonie die Welt eines Dorfes vor, in der sich unsere Gegenwart – bei Brandt die achtziger und neunziger Jahre – spiegeln soll.

So viel Ehrgeiz könnte auch schiefgehen, aber was mich betrifft, ziehe ich sogar Jan Brandt dem Uwe Johnson vor. Brandt ist erzählerisch und sprachlich vielfältiger, lebendiger und immer wieder von überwältigender Komik, wohl mit Schwächen zwischendurch, ein wenig ungleichgewichtig, aber was soll’s: dies ist ein großartiger Roman und in seiner Art ohne Beispiel in den letzten Jahrzehnten.

Der zweite Teil des Romans trägt den Titel „Heavy Metal“ und spielt in der Zeit zwischen 1989 und 1999. Daniel ist inzwischen auf dem Wilhelmine-Siefkes-Gymnasium in Leer, einem „wilhelminischen Backsteinbau“ (= Ubbo-Emmius-Gymnasium), zusammen mit drei Freunden aus Jericho-Ihrhove, Stefan, Robert und Onno. Auch der von vielen gehänselte Außenseiter Peter Peters, gleichfalls aus Ihrhove, sitzt in der Klasse. Die Freundesgruppe hatte ihn besonders perfide und brutal behandelt; Peter flippt völlig aus, geht von der Schule und legt sich schließlich am Rand von Ihrhove vor den Zug. Diese Geschichte wird aus zwei Perspektiven geschildert, und Brandt teilt hier in Arno Schmidtscher Manier die Seiten auf: auf der oberen Hälfte wird von der Schulzeit auf dem Gymnasium berichtet, auf der unteren Hälfte steht in Ich-Perspektive der Lebensbericht eines Lokführers, der die Strecke Emden-Rheine befährt und fast täglich durch Ihrhove kommt. Auch er stammt aus Ihrhove, hat dort seine ehemalige Frau und ein Kind, und immer bei der Durchfahrt betätigt er die Zugpfeife. Sein Leben ist durch mehrere Selbstmörder, die sich vor seinen Zug geworfen haben, bereits mehr oder weniger entgleist. Und sein Zug ist es am Ende dieser Passage, der den jungen Peter Peters überfährt. Dieser Text, für den Brandt viel recherchiert haben muss, ist ein weiterer erzählerischer und sprachlicher Höhepunkt des Romans.

Zwischen den beiden Erzählsträngen verläuft über 150 Seiten hinweg ein durchgehender waagerechter Doppelstrich. Da musste ich auch erst drauf kommen: das sind die Schienen der Bahnstrecke.

Jan Brandt ist immer wieder ein kleiner Scherzbold: Einmal lässt er das reale Ihrhove auch in Jericho vorkommen, und mehr noch: Daniels Mutter Birgit unterhält sich mit zwei Freundinnen über Kleidung. „Ist aber nicht von uns“, sagt eine. „Nee, von Brandt, Ihrhove.“ „Du bist dafür ganz nach Ihrhove gefahren?“ „Hab ich auch schon gemacht“, sagte Marlies. „Die haben ganz gute Sachen da.“

Von den acht Brandts im realen Ihrhove haben zwei etwas mit Kleidungsgeschäften zu tun. Es würde mich nicht wundern, wenn es hierbei um eine Hommage von Jan Brandt an das Geschäft seiner Eltern geht.

Jan Brandt gegen die Welt (6): Die Invasion der Plutonier

Brandt widmet sich ausführlich dem weiteren Schicksal der Freunde Daniels, die allesamt sterben: zunächst Rainer bei einem Verkehrsunfall (10 Seiten),  dann Onno durch öffentlichen Selbstmord bei einem Konzert (25 Seiten), dann – und das geschieht erst 1999 - Stefan und seine Freundin Stephanie (70 Seiten). Überraschenderweise ist auch Daniel in der Zwischenzeit gestorben.

Stefan ist ein hochbegabter Mathematiker, aber von der Idee besessen, dass die Plutonier auf der Erde infiltriert sind und ausgerechnet in Jericho begonnen haben, die Menschheit zu übernehmen. Er war derjenige, der den Brief an Bundeskanzler Schröder geschrieben hat, der ganz am Anfang des Romans abgedruckt ist. Von ihm haben wir zwischendurch einen weiteren Brief, diesmal an den Bundesnachrichtendienst, lesen können und jetzt noch einen an Daniels Mutter. Stefan meint, eine Maschine konstruieren zu können, mit der alles noch abzuwenden ist, leider sterben er und Stephanie bei dem Versuch.

Im dritten Teil des Romans mit dem Titel „White Shadow“ erfolgt ein Flashback zu Daniel im Jahr 1991. Daniel geht jetzt zur Realschule und macht ein Praktikum bei der Friesenzeitung. Wir erfahren in ermüdender Ausführlichkeit weiteres über Daniels Vater und seine Liebschaften sowie über den Pastor und seine Frau. Ganz hübsch ist immerhin eine Passage über das Kino-Center in Leer (495-510), das ehemalige Deli.

Bis jetzt habe ich den Roman ja nur gelobt, muss das jetzt aber doch relativieren: sowohl die Plutonier-Geschichte, zu der es leider noch mehr zu sagen geben wird, als auch die Länge vieler Passagen zu den Nebenfiguren machen es dem Leser nicht leicht. Und deshalb hat der Rezensent der FAZ mit seinem eingeschränkten Lob und dem Ruf nach einem rigoroseren Lektor wohl recht. Das ist der Stand meiner Dinge auf Seite 633. Ich hoffe noch auf einen neuen Schub.

Jan Brandt gegen die Welt (7): Jan Brandt persönlich

Wer hat schon die Zeit, jetzt stante pede die 900 Seiten von „Gegen die Wand“ zu lesen und sich ein eigenes Bild zu machen? Zum Teil nicht einmal die Rezensenten. Wer sich da nicht auf subjektiv angehauchte Rezensionen und Blogs einlassen will, kann sich auch für eine persönliche Begegnung mit Jan Brandt entscheiden.

Nächste Woche beginnt die Lesereise. Das gesamte Programm findet sich auf der Website www.gegendiewelt.de . Wir greifen mal hinein und stellen fest, dass er zum Beispiel am 20. Oktober im Roten Salon in Berlin liest, am 8. November in seiner Geburtsstadt Leer im Kulturspeicher und am 28. November in Karlsruhe im Buchcafé. In diesem geografisch weit gespannten Dreieck kann jeder zum Zuge kommen.

Jan Brandt wird wegen seiner Geburtsstadt ja überall als Leeraner gehandelt. Der kleine Ort Ihrhove hätte allerdings das größere Recht, auf ihn als Sohn des Dorfes stolz zu sein: den größten Teil seiner Kindheit und Jugend hat er dort gewohnt. Jahrelang war er Mitglied des Fußballvereins SV Concordia Ihrhove, der im Roman einmal kurz als „Germania Jericho“ Erwähnung findet. Ihrhove ist aus der deutschen Literaturgeschichte nicht mehr wegzudenken!

Ortsunkundige, die immer wieder auf den Namen Westoverledingen stoßen, seien beruhigt: Ihrhove ist seit 1973 Teil der Gemeinde Westoverledingen, hat aber noch einen eigenen Ortsbürgermeister.

Jan Brandt gegen die Welt (8): Politik und Sex in Jericho

In Kapitel 8 von „White Shadow“ erreicht der Roman „Gegen die Welt“ seinen politischen Höhepunkt und gewinnt damit wieder an Fahrt und Qualität. Der fünfzehnjährige Daniel hat während seines Praktikums bei der Friesenzeitung Geschmack auf entlarvende Artikel bekommen, kann aber seine brisanten Recherchen nicht unterbringen, da er immer wieder gegen Mauern anrennt.

Der reiche Bauunternehmer Rosing will nach seinen geschäftlichen Erfolgen nun auch Bürgermeister von Jericho-Ihrhove werden und hält eine Wahlrede. Alles was im Dorf Rang und Namen hat, ist versammelt. Jan Brandt unterhält seine Leser zwei Seiten lang mit einer Aufzählung der regionaltypischen Namen und Kurzcharakterisierungen der Anwesenden: Nanninga, Oltmanns, Tammen, Wübbena und Groenewold, sie alle ziehen an unserem inneren Leserauge vorbei. Dann folgt die Rede, komplett, zehn Seiten lang, ein Musterbeispiel populistischer Hetze mit verschleiertem Rassismus und Ausländerhass, geschickt so gebracht, dass die Bürger Jerichos sich darin wiederfinden können.

Daniel kommen bestimmte Begriffe darin bekannt vor und er macht sich auf die Suche nach der Vorlage für Rosings Rede. Die folgende Passage gehört wieder zu den Glanzstücken des Romans. Eigentlich wäre sie wunderbar geeignet gewesen, wieder zweispaltig übereinander präsentiert zu werden, da zwei parallel ablaufende Vorgänge beschrieben werden, die auch örtlich aufeinander bezogen sind: Daniels nächtliche Suche auf dem Dachboden seiner Eltern und der direkt unter ihm stattfindende Beischlaf im elterlichen Schlafzimmer (Gegen die Welt 712-722). Daniel arbeitet sich – irritiert durch die Lustschreie seiner Mutter - auf dem vollgestellten Boden durch Dutzende dort abgelegte Gegenstände seiner Kindheit hindurch – hier haben wir wieder eine der fabelhaften Aufzählungen Jan Brandts - und stößt schließlich auf die Kiste der Großmutter und an deren Boden auf ein Exemplar von Hitlers Mein Kampf. Das hatte er gesucht, denn einige der Kernbegriffe aus Rosings Rede stammten aus diesem Buch.

Währenddessen sind seine Eltern ausführlich zugange, brechen aber, irritiert durch Geräusche vom Dachboden, den Beischlafversuch ab. Der interrumpierte Vater schaut verärgert nach, kommt aber zu spät, da Daniel bereits wieder im Bett liegt und den Schlafenden mimt.

Jammerschade, dass dies nicht übereinander gedruckt wurde. Vielleicht ist hier ja doch der Lektor eingeschritten, um das Buch vor zu viel Firlefanz zu bewahren. Nur gerade hier hätte’s so schön gepasst.

Jan Brandt gegen die Welt (9): Jericho und Jerichow

Der Scherzbold in Jan Brandt hat noch einmal zugeschlagen: Nachdem er das reale Ihrhove in eigener Sache in den Roman eingeschmuggelt hat (siehe Jan Brandt gegen die Welt 5), ist jetzt das fiktive Jerichow aus den Romanen Uwe Johnsons dran:

Der Unternehmer Rosing aus Jericho spricht mit Bernhard Kuper und Daniel über seinen Sohn Michael:

„Ich will ihn anlernen, schließlich soll er mal die Filiale in Jerichow übernehmen.“

„Du meinst, das andere, das im Osten?“

Rosing nickte. „Das W macht den Unterschied.“

„W wie witzig“, sagte Daniel, woraufhin Hard ihm wieder einen bösen Blick zuwarf.

„Nein“, sagte Rosing. „W wie Wiedervereinigung.“

„Als ob die beiden Dörfer je zusammengehört hätten.“

„Das nennt man PR. Könntest du auch gebrauchen. Für dein Image.[…]“

(Gegen die Welt, 797)

Der Witz und der Sinn dieser kleinen Passage ist ein doppelter und dreifacher: einerseits die Koppelung der beiden fiktiven Dörfer Jericho und Jerichow, die in den beiden Großromanen „Gegen die Welt“ und „Jahrestage“ die gleiche Funktion haben, dann die Funktion im zeitgeschichtlichen Kontext der deutschen Vereinigung und der wirtschaftlichen Übernahme des Ostens durch westdeutsche Unternehmer und schließlich die Werbefunktion, die diese Koppelung für Jan Brandts eigenes Image hat: dauernd in einem Atemzug mit Uwe Johnson zusammen genannt zu werden, ist natürlich ein genialer Trick, der hier dann auch noch selbstironisierend als PR zitiert wird.

Was das genaue Lesen angeht, gibt es doch zu denken, dass die Rezensenten – wie Volker Weidermann im FAZ-Net und jetzt wieder David Hugendick von der Zeit – immer noch davon ausgehen, das Vorbild für Jericho sei die ostfriesische Stadt Leer. Werch ein Illtum!

Jan Brandt gegen die Welt (10): Ich bin ein Meister der Einsamkeit

Im ersten Teil des Romans „Gegen die Welt“ lässt die Lektüre des Kapitels „Ich bin ein Meister der Einsamkeit“ den Leser irritiert zurück: der Text scheint aus einem trivialen Science-Fiction-Roman zu stammen und erzählt in der Ich-Form von einem Alien in geheimer Mission. Er folgt nach der Passage über Daniel und den Kornkreis. Soll da jetzt wirklich ein Ufo mit Außerirdischen gelandet sein? (Die Science-Fiction-Fans im Internet haben „Gegen die Welt“ schon für ihr Genre geclaimd.)

Über hunderte Seiten hinweg bleibt der Leser über die Funktion dieses Textes im Unklaren; Jan Brandt spielt sowieso gern mit der Leserunsicherheit, ob an dem Kornkreis-Geschehen nun was Außerirdisches dran sein soll oder nicht. Auf Seite 658 erhalten wir endlich Gewissheit, jedenfalls was den Erzähler des SF-Textes vom Anfang betrifft: Die Deutschlehrerin hat den Auftrag gegeben, eine Novelle zu schreiben, Thema frei, und dies ist Daniels Hausaufgabe. Logisch, Daniels Kopf ist jahrelang voller Science-Fiction-Phantasien. Warum Jan Brandt diese im Romankontext 1991 entstandene Erzählung in einem Kapitel einreiht, das fünf Jahre früher spielt, bleibt noch eine Weile unklar. Das wird uns erst aufgehen, wenn wir erfahren, wer eigentlich der Erzähler des Ganzen ist. Und das hat Jan Brandt so sorgfältig verborgen, dass am Ende eine wirkliche Überraschung auf uns wartet. (Ich hab‘ das Buch schon heimlich ausgelesen.)

Jan Brandt gegen die Welt (11): Menetekel in Jericho

Im Dorf hatte es schon vor einiger Zeit Nazischmierereien gegeben: NPD, Ausländer raus, Deutschland den Deutschen und Hakenkreuze.  Daniel war beim Versuch, sie zu übertünchen, festgenommen und verhört worden. Jetzt gibt es neue und stets mehr Hakenkreuze an immer mehr Häusern, mit einer speziellen Farbe angebracht, tagsüber unsichtbar, aber nachts leuchtend. Jericho erhält wieder einmal Medienberühmtheit, diesmal wegen seiner Neonazis.

Daniel steht unter Verdacht, man kann ihm aber nichts nachweisen. Er selbst glaubt zu wissen, wer dahintersteckt: Rosing, der Unternehmer. Irgendwann findet er in dessen Lagerschuppen einen Eimer mit Spray- und Farbutensilien. Aber seit dem Kornkreis-Geschehen wird immer wieder Daniel verdächtigt, wenn im Dorf etwas Auffälliges geschieht. Am Ende soll er sogar Wiebke, die dreizehnjährige, geistig minder bemittelte Tochter von Rosing vergewaltigt haben. Nur an seinem Elternhaus steht „Ich liebe dich“. Warum? Die Dorfbevölkerung gerät in Hysterie, der Mob endet sich gegen Daniels Elternhaus. Sein Vater ist ruiniert.

Die Ereignisse verdichten sich, Untergangsstimmung kommt auf. Irgendwann während der letzten 200 Seiten wird sich dem Leser die Assoziation aufdrängen: Daniel, Jericho, biblische Namen! Das Buch Daniel, die Schrift an der Wand, das Menetekel! Und tatsächlich: immer mehr Parallelen zu den apokalyptischen Ereignissen dieses prophetischen Bibelbuches verwirren uns zum Ende des Romans hin. Was soll das bedeuten?

Jan Brandt gegen die Welt (12): Deutschland ist Deutschland, und Holland ist Holland

Holland spielt in „Gegen die Welt“ keine große Rolle, obwohl die Grenze keine dreißig Kilometer entfernt ist und der „Zug nach Holland“ dauernd durch den Roman bzw. Jericho-Ihrhove rumpelt. Der kleine Ort Winschoten kurz nach der Grenze wird einmal genannt: da holen sich die Jungs den guten Stoff, besser und reiner alles andere auf dem Drogenmarkt. Und als die Lage für Daniel verzweifelt wird – von der Polizei gesucht, sein Bild im Fernsehen -  denkt er daran, sich nach Holland abzusetzen. Seine Freundin Simone soll ihre Mutter becircen, mit ihr (und Daniel im Kofferraum) zum Shoppen nach Groningen zu fahren. Daniel weiß auch genau, warum das eine gute Idee ist:

„Irgendwann muss ich hier raus. Raus aus Jericho.“

„Wo willst’n hin?“

„Keine Ahnung. Erst mal weg.“

„Du warst im Fernsehen.“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Na und?“

„Jeder kennt dein Gesicht.“

„In Holland nicht.“

„Können die da doch auch sehen.“

„Ja, aber das interessiert die nicht. Deutschland ist Deutschland, und Holland ist Holland, und bis zur Grenze sind’s nur dreißig Kilometer.“

(Gegen die Welt, 842)

Richtig: Deutschland interessiert die nicht.

Jan Brandt gegen die Welt (13): Poetologische Dinglisten

Ein sehr bewusst eingesetztes poetologisches Instrument im Roman „Gegen die Welt“ sind die langen Listen, in denen mit großer sprachlicher Korrektheit und Ausführlichkeit Dinge der Warenwelt oder auch Namen oder Einkaufslisten aufgezählt werden. Am auffälligsten ist das bei Daniels Suche auf dem Dachboden, wo die Funktion der Liste – vielleicht überflüssigerweise – von Jan Brandt auch noch explizit gemacht wird: „Als er sich einen Weg durch das Gerümpel bahnte, war ihm, als schreite er durch sein eigenes Leben, von der Gegenwart, die gleich hinter der Türschwelle begann, zurück zu seiner Geburt“ (Gegen die Welt, 713).

Und dann folgt fünf Seiten lang (!) eine Liste der abgelegten Dinge aus Daniels Leben inklusive der Schulbücher mit kompletten Titeln und der tausendreihundertsechs Hefte seiner Perry-Rhodan-Sammlung. Komischerweise ist das ganz unterhaltsam. Am Ende steht die Kiste der Oma mit „Mein Kampf, die Jubiläumsausgabe zum fünfzigsten Geburtstag des Führers mit goldenem Schnitt und goldenem Schwert“ (717).

Und im Gespräch mit seinen Eltern über dieses Buch wird die Dinggeschichte weitergeführt: „Jeder hier in Jericho hatte eine Hakenkreuzfahne am Haus. Jeder. Und bevor die Polen kamen, hat sie jeder, der einigermaßen bei Verstand war, im Garten verbrannt und vergraben. Zusammen mit diesem Buch hier. Nur deine Oma nicht. Die Polen haben nämlich jedes Haus mit Hakenkreuzfahne abgefackelt. Jedes. Aus Rache. Und als die Polen wieder weg waren , hat deine Oma alles wieder rausgeholt aus dem Loch. Alles, bis auf die Fahne und die Orden“ (726).

So baut Jan Brandt die Nazizeit ein und die – vielen unbekannte – sogenannte polnische Besatzungszone im Emsland zwischen 1945 und 1947.

Aber auch sonst sehen wir eine große Aufmerksamkeit für die Dinge, die den Menschen charakterisieren: jedes Auto, das im Roman vorkommt, wird mit Marke, Typ, Baujahr und PS-Zahl vorgestellt, zum Beispiel der Opel Rekord E2 2.0 S, Baujahr 1982, 100 PS, der am Anfang des Romans als neuer Wagen des Vaters vorkommt und dessen Bedienungsanleitung wir 700 Seiten und fast zehn Jahre später wo begegnen? Natürlich auf dem Dachboden bei Daniels Stöbern in der Vergangenheit. Jan Brandt ist in diesen Dingen sehr genau!

Jan Brandt gegen die Welt (14): Der Pastor aus Worpswede

Die Ausführlichkeit in Sachen Autos begegnet uns noch einmal im ziemlich vollgepackten Epilog unter dem Titel „Ich habe die Welt überwunden“, der eine ganze Reihe Überraschungen bereithält. Hier spricht der Pastor von Worpswede, der gerade sein Amt angetreten hat,  in der Ich-Form und klärt uns über sich und die Geheimnisse dieses Romans auf. Dieser Epilog spielt in unserer Gegenwart, im Jahr 2010 (ersichtlich aus Zeitungsschlagzeilen). Der Pastor ist übrigens ein Auto-Narr und sammelt Oldtimer. Eine Liste von zehn Kostbarkeiten wird uns aufgezählt, und zwar merkwürdigerweise in derselben Notation wie alle Autos im Roman: Marke, Typ, Baujahr, PS-Zahl.

Bei dem Pastor handelt es sich um Volker Mengs aus Jericho-Ihrhove, der Volker aus dem ersten Kapitel, mit dem Daniel als Grundschüler gespielt hat. Er war es, der als Fünfzehnjähriger das „Ich liebe dich“ ans Elternhaus von Daniel gesprayt hatte, denn Volker ist schwul und Daniel war seine große unerfüllte Liebe. Das erklärt sein Interesse an der ganzen Geschichte mit all ihren Katastrophen und Untergängen: er hat sie recherchiert und zusammengestellt. In seinem Bücherregal steht die Dokumentation der Lebensgeschichten aller Hauptpersonen: „Zuunterst stehen Leitz-Ordner (in alphabetical order) mit Materialien über Stephanie Beckmann, Onno Kolthoff, Bernhard, Birgit und Daniel Kuper, Peter Peters, Rainer Pfeiffer, Simone Reents, Stefan Reichert und Johann, Michael und Wiebke Rosing.“ (869)

Volker ist der Erzähler des Romans, in einer Mischung aus allwissendem und multipersonalem Erzähler mit dem Focus auf das Objekt der Begierde: Daniel. Volker ist unter dem Einfluss des Ohrfeigen austeilenden evangelisch-reformierten Pastors aus Jericho-Ihrhove selber Theologe und Geistlicher geworden, ein fundamentalistischer, urchristlicher Eiferer, der „alles was geschieht, als göttliche Vorsehung“ begreift.

Ja, das ist eine Überraschung, und es erklärt einiges. Darüber morgen mehr.

Jan Brandt gegen die Welt (15): Cees Nooteboom und die göttliche Vorsehung

Der neue Pastor begegnet in Worpswede dem real-existierenden Künstler Jan Philip Scheibe, der im Roman auch unter seinem eigenen Namen figuriert. Im Gespräch über das Thema „Göttliche Vorsehung“ erzählt Scheibe eine Geschichte, die zu konstruiert erscheint, um nicht wahr zu sein: die Geschichte, woher er seinen zweiten Vornamen hat.

Sein Vater war ein Verehrer des niederländischen Schriftstellers Cees Nootebooms gewesen und hatte dessen Erstlingsroman Philip en de anderen ins Deutsche übersetzt. Auf einer Reise ins nördliche Norwegen begegnete er mitten in der menschenleeren Wildnis dem Autor seines Kultbuches. „Die beiden haben ein Lagerfeuer gemacht, sich unterhalten und den letzten Whisky miteinander geteilt.“ Nooteboom berichtet in einer Reisebeschreibung hiervon.

Ist das Vorsehung? Ja, wenn man dran glaubt und die Situation ergreift. Auch ich bin einmal, kurz nachdem ich einen Artikel über ihn veröffentlicht hatte, Cees Nooteboom begegnet, zwar nicht in Norwegen, sondern in Amsterdam, wo die Wahrscheinlichkeit größer ist: er stieg in die Straßenbahn ein, in der ich saß und setzte sich neben mich. Ich glaube nicht an die Vorsehung und schlimmer noch: ich habe die Situation auch rein menschlich nicht ergriffen. Ich dachte, was soll das bringen, ihn hier einfach so in der Straßenbahn anzureden, das ist doch blöde. So blöde war ich! Zwei Stationen später stieg er wieder aus. Chance verpasst/verpatzt.

Der Roman Philip und die anderen galt bei vielen europäischen Intellektuellen lange Zeit als Geheimtipp. Jan Brandt lässt Jan Philip Scheibe dieses Buch, das für dessen Namen verantwortlich ist, als sein literarisches Erweckungserlebnis beschreiben. Es geht um die Sehnsucht eines jungen Mannes nach einer Frau, die er nie gesehen hat, der er durch Europa nachreist, die er findet, aber nicht bekommt. Und wenn Jan Brandt diesem Roman einen so gewichtigen Platz im Offenbarungsteil seines eigenen Buches gibt, muss er für ihn wohl etwas Entsprechendes bedeuten. Wir dürfen den schwulen Pastor Volker, der Daniel nicht bekommen hat, inzwischen auch als ein Alter Ego von Jan Brandt sehen. Die Erzählerkonstruktion ist komplizierter, als ich am Anfang gedacht hatte.

Jan Brandt gegen die Welt (16): Jan Philip Scheibe und sein postmodernes Menetekel

Jan Brandt hat Volkers Coming-out-Kapitel noch kurz vor Drucklegung des Romans mit dem Komplex um den Künstler Jan Philip Scheibe erweitert und überhöht. Scheibe muss ihm wohl gut in den Kram gepasst haben, ein Akt der Vorsehung sozusagen: er übernimmt nicht nur die Nooteboom-Geschichte, sondern auch ein Kunstwerk von Scheibe, das erst Ende 2010 entstanden und öffentlich ausgestellt worden ist: die Leuchtskulptur mycobacterium vaccae, eine Schrift in der Nacht, deren Buchstaben durch einen Zufallsgenerator aufleuchten, ein postmodernes Menetekel.

Dem darin angesprochenen Bakterium, das sich vor allem in Kuhscheiße wohlfühlt,  sind von der wissenschaftlichen Forschung glücklich machende und aktivierende Qualitäten zugesprochen worden. Volker: „Was für ein Tag: erst lerne ich in diesem Künstlerdorf einen echten Künstler kennen, dann nimmt durch ihn das Geistige Gestalt an und verwandelt sich zum bunten Licht einer übermenschlichen, überirdischen Schöpfungsmacht, die sich nicht nur in der Reinheit des Himmels, im Schimmer der Sonne zeigt, sondern auch im Schlamm der Erde, im Kot der Kühe. Deus in minimis maximus. O süße Theophanie!“ (Gegen die Welt, 881). Volker nennt dem Leser dann sogar noch die genaue YouTube-Adresse unter der Scheibe sein Kunstwerk vorstellt.

War das wirklich noch nötig? Na ja, immerhin passt es zur zeitgemäßen Einbindung des Daniel-Komplexes der Bibel, zu dem (morgen) auch noch ein paar Worte gesagt werden müssen. Volker ist ja - wie alle Fundamentalisten - medientechnisch voll up to date und hat hunderteinundvierzig Freunde bei Facebook. Sein Handy-Klingelton ist der Anfang von Beethovens Fünfter, der sogenannten „Schicksalssinfonie“. Und wenn der Scherzbold Jan Brandt dieses Handy während der ersten Abendmahlsfeier des neuen Pastors in Worpswede losgehen lässt, dann ist das wieder einmal sowohl ein (gelungener) Scherz, als auch eine postmoderne Anspielung auf den zugrundeliegenden Ernst seiner Sache. Und damit nähern wir uns dem tatsächlichen Ende des Romans.

Jan Brandt gegen die Welt (17): Das Buch Daniel

Im Menetekel des Künstlers Jan Philip Scheibe erkennt Volker Worte, die sich so nur ihm assoziativ  erschließen: vibrato, america, miriam, abort, beatrice, mutautor, maocity, meteor (Gegen die Welt, 880). Über eine halbe Seite erstreckt sich das „zufällige“ Buchstabenchaos. Dass darunter Beatrice, Dantes Führerin durchs Fegefeuer, und die alttestamentarische Prophetin Miriam vorkommen: kein Zufall.

Der Roman ist von Anfang an in all seinen personalen Perspektiven von Zeichen und Ereignissen der Apokalypse und des Untergangs durchsetzt: da ist Stefans Brief an Kanzler Schröder über die Invasion der Plutonier, die in Jericho beginnt, und es herrscht der heißeste Sommer seit 1947, „Felder und Wiesen verdorrten, Bäche versiegten, in manchen Städten und Gemeinden wurde Ozon-Alarm ausgelöst“ (239): der Jahrhundertsommer von 1983.

„Nur an dem Tag, als Daniel aufbrach, um seine Freunde zu besuchen, regnete es ohne Unterlass… Der Wind trieb die Tropfen voran, peitschte sie gegen die Scheiben der Häuser und Autos, als hätte Gott seinen Engeln den Auftrag gegeben, die Erde endlich von allen Sünden reinzuwaschen und die Menschen, seine missratene Schöpfung, von deren Oberfläche zu spülen, ganz gleich, ob sie ein Siegel auf ihrer Stirn tragen oder nicht“ (jetzt, beim zweiten Lesen, weiß man, dass hier Volker, der Pastor, spricht).

Die Dürre wird abgelöst vom Schnee im September und Hagel „in Geschossstärke“; ein Kornkreis im Mais mit dem merkwürdigen Erlebnis Daniels. Das zweite Kapitel spielt im Jahr 1986, dem Jahr der Katastrophe von Tschernobyl, die im Roman auch genannt wird, dem Jahr, in dem die Klimakatastrophe ein großes Thema ist, das dann auch in Daniels Schulunterricht vorkommt. Wir leben in der Trübsalzeit des biblischen Buches Daniel.

Wer mit den Bibelauslegungen der Fundamentalisten nicht vertraut ist, kann sich hier einlesen: http://www.dasgeheimnis.de/

Stefan versteigt sich in den Bibelcode (467-480) und versucht, ihn Stephanie zu erklären:

„Wir müssen uns an Jesaja halten. An Ezechiel. An Daniel. Die Zeichen-„

„Daniel Kuper?“

„Ich mein’s Ernst Steffi. Die Zeichen lagen die ganze Zeit offen vor uns, wir haben sie nur nicht erkannt.“

Und so gibt es mehr. Eine sorgfältige zweite Lektüre würde es an den Tag bringen. Die apokalyptische Sichtweise ist selten explizit, aber sie ist immer wieder da, als Hintergrund des Erzählers Volker.

Am Ende des Romans geht Daniel in den Feuerofen. Es gibt einen Epilog nach dem Epilog.

Jan Brandt gegen die Welt (18): Daniels Ende

Der Epilog nach dem Epilog führt die in Ichform geschriebene Beichte des Pastors Volker mit der Geschichte vom Tode Daniels fort. Er bringt noch eine Überraschung, die die Intensität des Erzählers Volker noch verstärkt. Volker liebte Daniel nicht nur, er war auch für dessen Tod verantwortlich.

Auf dem Schützenfest in Jericho/Ihrhove 1991 begegnet der betrunkene Volker dem verschwundenen Daniel im Güterschuppen, wo sich die geheime Höhle Wiebkes befindet. Er zündet sich eine Zigarette an und sieht im Lichtschein Daniel stehen. Er gesteht ihm seine Liebe und „ehe er noch etwas sagen konnte, machte ich einen Schritt auf ihn zu, dahin wo ich ihn vermutete, und küsste ihn zielsicher auf seine bittersüßen Lippen“ (920).Noch einmal fällt uns eine Parallele zum biblischen Buch Daniel auf: „Und siehe, einer, gleich einem Menschen, rührte meine Lippen an. Da tat ich meinen Mund auf und redete und sprach zu dem, der vor mir stand: Mein HERR, meine Gelenke beben mir über dem Gesicht, und ich habe keine Kraft mehr“ (Daniel 10:16). Daniel stößt ihn zurück, Volker geht und schnippt im Hinausgehen seinen Zigarettenstummel fort. Im Schuppen ist Glaswolle gelagert. Wahrscheinlich befindet sich auch Wiebke dort und Daniel versucht, sie aus dem aufflammenden Feuer herauszuholen. Wir sehen die Szene mit den Augen und mit den Worten Volkers: „und wir liefen alle dorthin und sahen, wie sich im Innern ein Licht auftat und ein Schatten darauf zuging. Und dann trat er ein in dieses die ganze Welt umgebende“ (921)

Der Satz endet abrupt, das Buch geht noch einige nummerierte Blanco-Seiten weiter. Ende.

Volker sieht sich als Doppelmörder und lebt und schreibt und überhöht sein Schicksal mit dieser Last. Auch dieses Endstück gehört zu den großen Passagen des Romans.

Jan Brandt gegen die Welt (19): Die Neue Ernsthaftigkeit

Die Vergleiche mit Dostojewski und Thomas Mann, die Edo Reents in seiner Rezension anstellt, führen in die Irre. Edo Reents, der weiß Gott etwas von Thomas Mann versteht, meint es ernst, aber zu einer Beurteilung dieses Romans in unserer Zeit trägt das nicht bei.

Genau wie die Charakterisierung des Verlags auf der Rückseite des Schutzumschlags: „GEGEN DIE WELT ist ein großer deutscher Roman über die Wende in Westdeutschland“. Nein, ein Wenderoman ist das nicht. Wenderomane werden von ostdeutschen Autoren geschrieben und behandeln ein regionales Phänomen: die Wende in Ostdeutschland. Und diese Wende ist auch schon wieder Geschichte. (Lässt sich jemand von mir provozieren?)

„Gegen die Welt“ ist dagegen ein Gegenwartsroman, der wichtigste, größte deutsche Gegenwartsroman der letzten zwanzig Jahre (Superlative sind durchaus angebracht!). Der Ossi Brandt (früher war das Wort „Ossi“ für die Ostfriesen reserviert) schreibt und reflektiert darüber, was die Globalisierung mit seiner Generation angestellt hat und bringt die oft zitierte Interdependenzformel von „globalization and localization“ in eine literarische Form. Und das nicht in postmoderner Verspieltheit, sondern mit einer neuen Ernsthaftigkeit, einem post-postmodernen Ernst, der sich außer bei Brandt erst bei wenigen angedeutet hat: Juli Zehs Roman „Spieltrieb“ (2004) zum Beispiel und Helmut Kraussers „Einsamkeit und Sex und Mitleid (2009). In diese Nachbarschaft gehört er, und in dieser Nachbarschaft wird seine Bedeutung sichtbar.

Gebt ihm den Buchpreis!

Jan Brandt gegen die Welt (20): Die Shortlist

Und hier ist die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2011 (in alphabetical order):

Jan Brandt, Gegen die Welt (DuMont, August 2011)

Michael Buselmeier, Wunsiedel (Das Wunderhorn, März 2011)

Angelika Klüssendorf, Das Mädchen (Kiepenheuer & Witsch, August 2011)

Sibylle Lewitscharoff, Blumenberg (Suhrkamp, September 2011)

Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (Rowohlt, September 2011)

Marlene Streeruwitz, Die Schmerzmacherin (S. Fischer, September 2011)

Herzlichen Glückwunsch, Jan Brandt!

Jan Brandt gegen die Welt (21): Jericho zwischen Fiction und Faction

Ja, ja. Der Autor besteht darauf: Jericho ist nicht Ihrhove. Recht hat er natürlich, denn dieses Jericho gibt es nur in seinem Roman. Er gibt inzwischen auf seiner Roman-Website www.gegendiewelt.de allerlei nützliche Informationen für Leser, die mit der Dicke des Buches und der Übersicht über Orte und Personen kämpfen. Sogar eine Karte von Jericho hat er gezeichnet!

Aber zum Kuckuck: mir geht es einfach auf den Geist, dass immer noch in jeder Rezension von Leer gesprochen wird. Nein: es ist Ihrhove!

Jan Brandt gegen die Welt (22): Ist Daniel wirklich tot?

Die drei Männer im Feuerofen im biblischen Buch Daniel kehren unversehrt aus der Flammenhölle zurück. Unsere Version, dass Daniel Kuper bei dem Brand des Lagerschuppens umgekommen ist, stammt aus unserer Leserinterpretation des uneindeutigen Berichts, den der von Gewissensnöten geplagte Pastor Volker Mengs gegeben hat. Aber ist Daniel wirklich tot? Dort steht ja nur, dass sich ein Licht auftat und ein Schatten darauf zuging.

Der Autor Jan Brandt, den ich bereits mehrfach als Scherzbold bezeichnet habe, schürt solche Zweifel auf seiner Website zum Buch. Unter dem Titel „Manischer Realismus“ macht er zehn ebenso prägnante wie verspielte Aussagen über die Poetologie seines Romans, darunter: „Tote können auferstehen (Elvis lebt)“ und „Es gibt kein Ende der Geschichte“. Und unter dem merkwürdigen Titel „Beweise“ schreibt er über seine Nähe zu H.P. Lovecraft und dessen Cthulhu-Mythos (Cthulhus Ruf, 1926). Brandt zitiert Lovecrafts Beschreibung des  geheimnisvollen Buches „Necronomicon“:

„Das Buch besteht aus etwa 1000 Seiten und enthält Andeutungen und Codes, Beschwörungs- und Zauberformeln, die, einmal ausgesprochen, Portale öffnen und Tote zum Leben erwecken. „Man glaube nur nicht, der Mensch sei der älteste oder der letzte Weltbeherrscher, oder Leben und Substanz könnten aus sich heraus bestehen. Die Alten waren, die Alten sind, und die Alten werden sein. Nicht in den Räumen, die uns bekannt sind, sondern zwischen ihnen gehen sie gelassen und unbeirrt umher, ohne Dimension und für unsere Augen unsichtbar.“ Ist auch Daniel Kuper in dieser Zwischenwelt gefangen? Und wenn ja: Wird Stefan Reichert ihn erreichen und zurückholen? Mehr dazu in: Gegen die Welt IIDie Rückkehr des Daniel Kuper, das 2022 bei DuMont erscheint.“
Da möchte ich schon jetzt Jan Brandt für den Deutschen Buchpreis 2022 vorschlagen!





Jan Brandt gegen die Welt (23): Unendlicher Lesespaß

Meine Jan-Brandt-Rallye ist noch nicht zu Ende, auch wenn das Buch ausgelesen und der Buchpreis an jemand anderen ausgereicht ist. Ich habe zwischendurch die ein oder andere Kurve ausgelassen, zum Beispiel bin ich völlig über die zentrale Rolle hinweggegangen, die Heavy Metal für den Roman spielt, und auch die bis in Poetologische reichende Bedeutung von TV-Formats habe ich vernachlässigt.

Nun ist in der ZEIT-Literaturbeilage unter der Regie von Iris Radisch die Rezension einer Bochumer Germanistin erschienen, die Jan Brandt am Zeug flicken will: „Das ‚Gegen‘ im Romantitel umarmt alle, die mal einen Parka hatten.“ Der Roman sei ein „Retro-Fest“ mit dem „dahingeseufzten Damals“. Und so sieht diese Person nur eine „unendliche Thujahecke“ zwischen den Doppelhaushälften der achtziger Jahre, die alles überwuchere, was Jan Brandt eigentlich sagen wolle. Gründlicher kann man den Roman nicht missverstehen. Ich bin in den letzten Jahren häufiger jüngeren Germanistinnen begegnet, deren hervorragende Qualitäten jedenfalls nicht in der Analyse von deutschen Romanen bestanden.

Ich möchte ein kleines bisschen dazu beitragen, dass dieses Buch auch jenseits der Buchsaison 2011 wahrgenommen wird. Für mich persönlich wird es eine zweite Lektürerunde geben, um aus meinen Beobachtungen ein rundes Ganzes = einen Artikel zu machen.

Jan Brandt gegen die Welt (24): Manischer Realismus zwischen Bolaño und Onetti

Auf Jan Brandts Website zu seinem Roman „Gegen die Welt“ findet der neugierige Leser ein poetologisches Kapitelchen mit dem Titel „Manischer Realismus“. In Brandts typischer Art zwischen Spaß und Ernsthaftigkeit werden wir dort mit den zehn Geboten seiner Poetologie bekannt gemacht:

MANISCHER REALISMUS

1. Der Autor ist größenwahnsinnig (Ich bin Gott, und Jericho ist mein Kosmos).
2. Das Wetter spielt verrückt.
3. Jedes Detail ist recherchiert. Fehler sind beabsichtigt.
4. Konsumgüter definieren die Charaktere.
5. Alle Figuren sind Formwandler und immer drei Schritte vom Abgrund entfernt.
6. Medien werden als Teil der Wirklichkeit wahrgenommen.
7. Eine Welt ohne Politik, Popkultur, Religion, Technologie, Wirtschaft, Umwelt, Sport, Sex, Tod, etc. ist Fiktion.
8. Tote können auferstehen (Elvis lebt!).
9. Das Internet ist ein Freund.
10. Es gibt kein Ende der Geschichte.

Ich halte mich im Moment mit der Auslegung dieser Gebote zurück.
Wenn man den Begriff „Manischer Realismus“ in Google eingibt, kommen erstaunlich wenige, aber doch passende Treffer heraus. Und zwar nur auf Deutsch; in Englisch oder Spanisch habe ich nichts gefunden. Wen also hat man in den letzten Jahren im deutschen Feuilleton mit dieser Charakterisierung verbunden?

Zum einen den Chilenen Roberto Bolaño (1953-2003) mit seinem gewaltigen Roman „2666“, den ich nach der Lektüre eines Drittels vorläufig wieder in den Schrank gestellt habe, zum anderen den Uruguayaner Juan Carlos Onetti (1909-1994), der mir noch unbekannt ist: zwei Südamerikaner; das kann kein Zufall sein. Beide Autoren waren zwischen 2007 und 2009 mit der Klassifizierung „Manischer Realismus“ im Gespräch. Sie werden dem aufgeweckten Autoren und Journalisten Jan Brandt nicht entgangen sein.

Vom Anfang meiner Lektüre Bolaños habe ich damals berichtet. Ich habe ihn nicht wieder in den Schrank gestellt, weil er mir nicht gefiel; es wurde nur zu viel, man muss ja auch mal arbeiten. Was ich erinnere, lässt durchaus Parallelen mit „Gegen die Welt“ zu. Dem werde ich nachgehen.

Jan Brandt gegen die Welt (25): Die Lesung in Leer. Ein Bericht vom 8. November 2011

Vor meiner kleinen Reise von Groningen nach Leer gehe ich zur diesjährigen Grippeimpfung und von dort aus direkt zum Bahnhof. Dadurch kommt es mir so vor, als hätte ich mir eine Schutzimpfung für eine Reise in ein exotisches Land geholt. Aber es geht ja auch nach Ostfriesland. Die Zugfahrt beginnt mit der enervierenden automatischen Ansage auf Niederländisch und Deutsch, in der alle Stationen der Reise aufgezählt werden. Das Deutsch der weiblichen Ansagerin strahlt eine gewisse Angestrengtheit aus. Die fortwährenden Stopps und Durchsagen machen diese Zugstrecke zur anstrengendsten, die ich kenne.

An der Grenze ist es schon dunkel. Im Zug sitzen nur noch vier Gestalten. Hinter Weener halte ich Ausschau nach Jericho-Ihrhove, aber kaum ein Licht durchdringt die Dunkelheit. Jericho ist wie vom Erdboden verschluckt. Diese Strecke spielt eine große Rolle in Jan Brandts „Gegen die Welt“.

Um halb sechs bin ich in Leer. Die Läden sind noch eine halbe Stunde geöffnet, aber die Fußgängerzone liegt schon verödet da. Es ist kalt. Ich habe noch zwei Stunden Zeit und möchte etwas essen. Die ehemalige Buchhandlung Taraxacum, in der Jan Brandt seinen Blick für die Bücherwelt geweitet hat, sollte im November als Krimi-Buchhandlung neu eröffnet werden. Die Räume sind erleuchtet, eine Frau räumt die ersten Bücher in die Regale. Vom versprochenen Restaurant ist noch nichts zu sehen. Ich gehe weiter zur „Waage“, dem Restaurant der gutbürgerlichen Leeraner. Es ist fünf vor sechs. Geschlossen. Sie wird wohl erst um sechs öffnen. Ich gehe durch die Rathausstraße. Im Fenster eines übervollen Ladens mit Weihnachtsschmuck entdecke ich eine Weihnachtsbaumkugel in Form eines Pinguins. Ich gehe hinein und kaufe ihn. Die Frau kommt aus Weener und erzählt ungefragt vieles über Weihnachtsschmuck zur Zeit und zur Unzeit.  Sie zeigt mir noch einen größeren Pinguin. Er hat einen kleinen Kopf und ein rotes Mäntelchen. Den will ich nicht.

Die Waage hat immer noch zu. Schließlich lese ich auf einem kaum entzifferbaren Schild: Montag und Dienstag geschlossen. Ich fühle mich wie gewogen und zu leicht befunden. In meiner Frustration gehe ich schnurstracks zum Griechen in die Brunnenstraße: „Dionysos“. Ich verziehe mich in den hinteren Teil des Lokals. Bifteki, Ouzo und Köpi: das Dionysische, das tut gut.
Das Lokal ist fast leer. Ich sinniere vor mich hin und fange an, diesen Text zu schreiben. Gegen halb acht muss ich los, um meine reservierte Karte für die Lesung abzuholen. Beim Hinausgehen stolpere ich beinahe über den vollbesetzten Tisch am Ausgang. Dort sitzt Jan Brandt mit den Organisatorinnen des Abends. Er sieht viel besser aus als auf den Fotos. In meiner Perplexität versuche ich  bedeutungsvoll zu gucken, murmele ein elegantes „Bis gleich!“ und verlasse das Restaurant.

Die Lesung ist wegen des großen Andrangs vom Kulturspeicher in die Aula des Teletta-Groß-Gymnasiums verlegt worden. Auf der Suche nach dem Eingang umrunde ich die Schule und fluche dabei in mich hinein wegen meiner elenden Einfallslosigkeit gerade im Lokal. Genau wie damals mit Cees Nooteboom! Ich hole meine Karte, auf der ein verschmitztes Konterfei von Jan Brandt mit gelber Kapuze steht und mache mich auf den Weg zurück zum Dionysos. Ich nehme mir vor, ihm den Pinguin zu schenken, damit er ihn sich Weihnachten in den Baum hängt und sich dabei an mich erinnert.

Beim Griechen bricht man gerade auf. Jan Brandt ist auf dem Klo. Als er endlich kommt, drücke ich ihm die Hand, gratuliere ihm zu seinem Buch und lasse nebenbei etwas über die 25 Blogbeiträge fallen, die ich dazu geschrieben habe. Jan Brandt ist ganz begeistert: „Sie sind das!?“ Nach einem Hinweis seines Lektors hat er alles gelesen und freut sich über meine Entdeckungen in seinem Roman.

Auf dem Weg zur Schule führen wir ein angeregtes Gespräch. Ich setze mich zufrieden in eine der letzten Reihen. Die Aula ist fast voll. So eine gut besuchte Dichterlesung hat es in Leer noch nicht gegeben: beinahe 400 Leute. Aus meiner Schulzeit sehe ich niemand, nur H.V. ist da, aber er ist ja auch der Direktor. Er erzählt mir, dass er in den Besitz einer kompletten Sammlung unserer damaligen Schülerzeitung „Vorhang auf“ gekommen ist. Das wird mir endlich ermöglichen, an die verlorene Geschichte vom Pinguin heranzukommen, die ich etwa 1966 geschrieben hatte.

Jan Brandt lässt sich von einer Dame vom NDR moderieren. Er hat eine gute Stimme und zeigt sich sehr geübt im Umgang mit dem Publikum. Die Leute lachen und klatschen viel und wirken sehr zufrieden. Auch sie stehen ja irgendwie im Zentrum des Abends. Endlich ist mal was los in und mit Leer. Doch nein, bleiben wir gerecht: Der Erfolg liegt vor allem an der durchgehenden Komik in den Texten Jan Brandts und an der Art und Weise wie er sie herausarbeitet. Die Fragen aus dem Publikum sind vorhersagbar und ein wenig langweilig. Jan Brandt fängt das auf, indem er sie originell und in spielerischer Widersprüchlichkeit beantwortet. Auch dafür ist ihm das Publikum sehr dankbar.

Leider muss ich um 22 Uhr gehen, um den letzten Zug nach Groningen zu erreichen. Ich bin der einzige Fahrgast und schreibe weiter an diesem Text. Die schrecklichen Lautsprecheransagen höre ich dadurch gar nicht. Bei der Ankunft in Groningen ist der Bericht fertig.

P.S.: Ich habe vergessen, Jan Brandt den Pinguin zu schenken. Jetzt werde ich ihn Weihnachten in meinen eigenen Baum hängen und mich an Jan Brandt in Leer erinnern.







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