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Donnerstag, 12. April 2012

Poetologie des Blogs (11): Die Präsenz Hans Ulrich Gumbrechts in der Gegenwart

Nun, Hans Ulrich Gumbrechts Tirade gegen die Blogs steht in einem Zusammenhang, den er als das „Oszillieren“ der Angehörigen seiner Generation (Gumbrecht ist vom selben Jahrgang wie ich) zwischen verschiedenen Zuständen beschreibt. So sieht er auch in seinem persönlichen Arbeitsleben als 62-Jähriger verschiedene Umgangsformen mit den Geräten und Formen der Kommunikationsrevolution: einerseits hat er sich mitten in einer hypermodernen amerikanischen Elite-Universität (Stanford) ein Arbeitszimmer ohne Online-Zugang ausbedungen, mit einem veralteten Computer, der nur als Schreibmaschine taugt, das heißt er will die ständige persönliche Verfügbarkeit, die u.a. durch E-Mails entsteht, damit vor der Tür halten. Andererseits gibt er zu, das sein aktueller Text doch in einer Online-Situation auf einem Laptop entstanden ist:

„Während ich diesen Text schrieb, habe ich ab und zu nach eingehenden E-Mails gesehen und soeben auch erfahren, wer heute den Tagessieg der Tour de France errungen hat. Diese vorherrschenden Zustände der menschlichen Lebenswelt im frühen 21. Jahrhundert haben den Eindruck des unmerklich kurzen Augenblicks der Gegenwart (einen historischen Zeitbegriff des frühen 19. Jahrhunderts, der so dominant geworden war, dass wir ihn mit Zeit an und für sich verwechselten) mittlerweile in einen sich immer mehr ausweitenden Gegenwartsmoment der Gleichzeitigkeiten verwandelt. In der heutigen elektronischen Gegenwart ist weder Platz für etwas ‚Vergangenes‘, noch für etwas ‚Zukünftiges‘, das nicht durch simulierte Vorwegnahme ins Hier und Jetzt geholt werden könnte. Alles ist immer ‚verfügbar‘. Manche von uns Älteren meinen, dass das einfach zu viel, wenn auch gleichzeitig nicht mehr genug Gegenwart ist.“

Hans Ulrich Gumbrecht, ‚Unbegrenzte Verfügbarkeit. Über Hyperkommunikation (und Alter)‘
In: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt am Main 2011, 131
Wie viele seiner Generation schwankt Gumbrecht zwischen der (oft auch unvermeidbaren) Akzeptanz der Phänomene und Instrumente der Kommunikationsrevolution und ihrer (oft emotionalen) Ablehnung. Und diesmal hat’s die Blogger erwischt. Ganz ähnlich könnte ich mich zum Beispiel über Twitter äußern, das mir von Jüngeren als wunderbares Instrument angepriesen wird, mich aber nur mit Grausen erfüllt. Und in Bezug auf facebook, das ich aufgrund dieses Blogs für mich aktiviert habe, schwanke ich von Tag zu Tag zwischen Faszination und Abneigung.

Die Welt der Blogs ist im übrigen so vielfältig, dass generelle Aussagen immer problematisch sind. Ein paar Leser habe ich ja immerhin, aber nach zwei Monaten beginnen die Wochenzahlen zu sinken. Ich habe aber auch schon gelernt, dass man sie durch geschickt gewählte Überschriften noch oben kriegt. Und was den Narzissmus betrifft: Der ist in dem Maße da, wie es das jeweilige Bedürfnis nach Selbstdarstellung erfordert. Ich glaube nicht, dass ich das übertreibe. Ohne ein gewisses Maß an Narzissmus wird jeder persönliche Text obsolet.
Gumbrecht spielt in seinem Buch ganz bewusst auf sein Alter an und lässt in diesem theoretischen Werk, das ihn auf dem Höhepunkt seines Denkens zeigt, zum Beispiel auch seine Enkelkinder vorkommen. Das ganze Büchlein ist durchwirkt von seinem eigenen Narzissmus. In der Einleitung zitiert er seinen großen verstorbenen Kollegen Hayden White, der einmal gesagt hat, im Leben eines kreativen Menschen genüge es, einmal eine gute Idee gehabt zu haben. Mehr brauche es nicht, schon weil die meisten anderen überhaupt keine hätten. Gumbrecht nimmt das dankbar an und sieht in seinem vor einigen Jahren entwickelten Gegenwartskonzept der „Präsenz“ seine eigene gute Idee. Damit könnte er Recht haben. Dazu demnächst mehr.

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