„Während ich diesen Text schrieb, habe ich ab und zu nach eingehenden E-Mails gesehen und soeben auch erfahren, wer heute den Tagessieg der Tour de France errungen hat. Diese vorherrschenden Zustände der menschlichen Lebenswelt im frühen 21. Jahrhundert haben den Eindruck des unmerklich kurzen Augenblicks der Gegenwart (einen historischen Zeitbegriff des frühen 19. Jahrhunderts, der so dominant geworden war, dass wir ihn mit Zeit an und für sich verwechselten) mittlerweile in einen sich immer mehr ausweitenden Gegenwartsmoment der Gleichzeitigkeiten verwandelt. In der heutigen elektronischen Gegenwart ist weder Platz für etwas ‚Vergangenes‘, noch für etwas ‚Zukünftiges‘, das nicht durch simulierte Vorwegnahme ins Hier und Jetzt geholt werden könnte. Alles ist immer ‚verfügbar‘. Manche von uns Älteren meinen, dass das einfach zu viel, wenn auch gleichzeitig nicht mehr genug Gegenwart ist.“
Hans Ulrich Gumbrecht, ‚Unbegrenzte Verfügbarkeit. Über Hyperkommunikation (und Alter)‘
In: Unsere breite
Gegenwart, Frankfurt am Main 2011, 131
Wie viele seiner
Generation schwankt Gumbrecht zwischen der (oft auch unvermeidbaren) Akzeptanz
der Phänomene und Instrumente der Kommunikationsrevolution und ihrer (oft
emotionalen) Ablehnung. Und diesmal hat’s die Blogger erwischt. Ganz ähnlich
könnte ich mich zum Beispiel über Twitter äußern, das mir von Jüngeren als
wunderbares Instrument angepriesen wird, mich aber nur mit Grausen erfüllt. Und
in Bezug auf facebook, das ich
aufgrund dieses Blogs für mich aktiviert habe, schwanke ich von Tag zu Tag
zwischen Faszination und Abneigung.
Die Welt der
Blogs ist im übrigen so vielfältig, dass generelle Aussagen immer problematisch
sind. Ein paar Leser habe ich ja immerhin, aber nach zwei Monaten beginnen die
Wochenzahlen zu sinken. Ich habe aber auch schon gelernt, dass man sie durch
geschickt gewählte Überschriften noch oben kriegt. Und was den Narzissmus
betrifft: Der ist in dem Maße da, wie es das jeweilige Bedürfnis nach
Selbstdarstellung erfordert. Ich glaube nicht, dass ich das übertreibe. Ohne
ein gewisses Maß an Narzissmus wird jeder persönliche Text obsolet.
Gumbrecht spielt
in seinem Buch ganz bewusst auf sein Alter an und lässt in diesem theoretischen
Werk, das ihn auf dem Höhepunkt seines Denkens zeigt, zum Beispiel auch seine
Enkelkinder vorkommen. Das ganze Büchlein ist durchwirkt von seinem eigenen
Narzissmus. In der Einleitung zitiert er seinen großen verstorbenen Kollegen
Hayden White, der einmal gesagt hat, im Leben eines kreativen Menschen genüge
es, einmal eine gute Idee gehabt zu haben. Mehr brauche es nicht, schon weil
die meisten anderen überhaupt keine hätten. Gumbrecht nimmt das dankbar an und
sieht in seinem vor einigen Jahren entwickelten Gegenwartskonzept der „Präsenz“
seine eigene gute Idee. Damit könnte
er Recht haben. Dazu demnächst mehr.
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