Friedrich Schiller
Eine
großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte
[…] Gegenwärtige Anekdote von zwei Deutschen – mit stolzer Freude schreib ich das nieder – hat ein unabstreitbares Verdienst: sie ist wahr. [..] Zwei Brüder, Barone von Wrmb., hatten sich beide in ein junges, vortreffliches Fräulein von Wrthr. verliebt, ohne daß der eine um des andern Leidenschaft wußte. Beider Liebe war zärtlich und stark, weil sie die erste war. Das Fräulein war schön und zur Empfindung geschaffen. Beide ließen ihre Neigung zur ganzen Leidenschaft aufwachsen, weil keiner die Gefahr kannte, die für sein Herz die schrecklichste war: seinen Bruder zum Nebenbuhler zu haben. Beide verschonten das Mädchen mit einem frühen Geständnis, und so hintergingen sich beide, bis ein unerwartetes Begegnis ihrer Empfindungen das ganze Geheimnis entdeckte.
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Schon
war die Liebe eines jeden bis auf den höchsten Grad gestiegen, der
unglückseligste Affekt, der im Geschlechte der Menschen beinahe so grausame
Verwüstungen angerichtet hat als sein abscheuliches Gegenteil, hatte schon die
ganze Fläche ihres Herzens eingenommen, daß wohl von keiner Seite eine
Aufopferung möglich war. Das Fräulein, voll Gefühl für die traurige Lage dieser
beiden Unglücklichen, wagte es nicht, ausschließend für einen zu entscheiden,
und unterwarf ihre Neigung dem Urteil der brüderlichen Liebe.
Sieger in diesem zweifelhaften Kampfe der Pflicht und Empfindung, den unsre Philosophen so allzeit fertig entscheiden und der praktische Mensch so langsam unternimmt, sagte der ältere Bruder zum jüngern: «Ich weiß, daß du mein Mädchen liebst, feurig wie ich. Ich will nicht fragen, für wen ein älteres Recht entscheidet. Bleibe du hier, ich suche die weite Welt, ich will streben, daß ich sie vergesse. Kann ich das, Bruder, dann ist sie dein, und der Himmel segne deine Liebe! – Kann ich es nicht, nun dann, so geh auch du hin und tu ein Gleiches! »
Er
verließ jählings Deutschland und eilte nach Holland – aber das Bild seines
Mädchens eilte ihm nach. Fern von dem Himmelsstrich seiner Liebe, aus einer
Gegend verbannt, die seines Herzens ganze Seligkeit einschloß, in der er allein
zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie die Pflanze dahinschwindet,
die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von
der milderen Sonne in rauhere Beete zwingt. Er erreichte verzweifelnd
Amsterdam; dort warf ihn ein hitziges Fieber auf ein gefährliches Lager. Das
Bild seiner Einzigen herrschte in seinen wahnsinnigen Träumen, seine Genesung
hing an ihrem Besitze. Die Ärzte zweifelten für sein Leben; nur die Versicherung,
ihn seiner Geliebten wiederzugeben, riß ihn mühsam aus den Armen des Todes. Ein
wandelndes Gerippe, das erschrecklichste Bild des zehrenden Kummers, kam er in
seiner Vaterstadt an, schwindelte er über die Treppe seiner Geliebten, seines
Bruders.
«Bruder, hier bin ich wieder. Was ich meinem Herzen zumutete, weiß der im Himmel. Mehr kann ich nicht.» Ohnmächtig sank er in die Arme des Fräuleins.
Der
jüngere Bruder war nicht minder entschlossen. In wenigen Wochen stand er
reisefertig da: «Bruder, du trugst deinen Schmerz bis nach Holland. Ich will
versuchen, ihn weiter zu tragen. Führe sie nicht zum Altar, bis ich dir weiter
schreibe! Nur diese Bedingung erlaubt sich die brüderliche Liebe. Bin ich
glücklicher als du, in Gottes Namen, so sei sie dein, und der Himmel segne eure
Liebe! Bin ich es nicht, nun dann, so möge der Himmel weiter über uns richten!
Lebe wohl. Behalte dieses versiegelte Päckchen, erbrich es nicht, bis ich von
hinnen bin! Ich geh nach Batavia!» Hier sprang er in den Wagen.
Halb entseelt starrten ihm die Hinterbleibenden nach. Er hatte den Bruder an Edelmut übertroffen. Auf den Zurückbleibenden stürmte die Liebe und zugleich der Schmerz über den Verlust des edelsten Mannes. Das Geräusch des fliehenden Wagens durchdonnerte sein Herz. Man besorgte für sein Leben. Das Fräulein – doch nein! Davon wird das Ende reden.
Man
erbrach das Paket. Es war eine vollgültige Verschreibung aller seiner deutschen
Besitzungen, die der Bruder erheben sollte, wenn es dem Fliehenden in Batavia
glückte. Der Überwinder seiner selbst ging mit holländischen Kauffahrern unter
Segel und kam glücklich in Batavia an. Wenige Wochen, so übersandte er dem
Bruder folgende Zeilen:
«Hier, wo ich Gott dem Allmächtigen danke, hier auf der neuen Erde denk ich Deiner und unserer Lieben mit aller Wonne eines Märtyrers. Die neuen Szenen und Schicksale haben meine Seele erweitert; Gott hat mir Kraft geschenkt, der Freundschaft das höchste Opfer zu bringen, Dein ist – Gott! hier fiel eine Träne, die letzte, ich hab überwunden –, Dein ist das Fräulein. Bruder, ich hab sie nicht besitzen sollen, das heißt, sie wäre mit mir nicht glücklich gewesen. Wenn ihr je der Gedanke käme, sie wäre es mit mir gewesen – Bruder! Bruder! Schwer wälze ich sie auf Deine Seele. Vergiß nicht, wie schwer sie Dir erworben werden mußte! Behandle den Engel immer, wie es jetzt Deine junge Liebe Dich lehrt! Behandle sie als ein teures Vermächtnis Deines Bruders, den Deine Arme nimmer umstricken werden! Lebe wohl! Schreibe mir nicht, wenn Du Deine Brautnacht feierst! Meine Wunde blutet noch immer. Schreibe mir, wie glücklich Du bist! Meine Tat ist mir Bürge, daß auch mich Gott in der fremden Welt nicht verlassen wird.»
Die
Vermählung wurde vollzogen. Ein Jahr dauerte die seligste der Ehen. – Dann
starb die Frau. Sterbend erst bekannte sie ihrer Vertrautesten das
unglückseligste Geheimnis ihres Busens: Sie hatte den Entflohenen stärker
geliebt.
Beide Brüder leben noch wirklich. Der ältere auf seinen Gütern in Deutschland, aufs neue vermählt. Der jüngere blieb in Batavia und gedieh zum glücklichen, glänzenden Mann. Er tat ein Gelübde, niemals zu heiraten, und hat es gehalten.
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