Noch in den achtziger Jahren konnte es dir in den Niederlanden in einem
öffentlichen Konzertsaal passieren, dass, wenn die letzten Töne einer sakralen
Musik von Bach, Beethoven oder Mozart verklungen waren und du zum Beifall
ansetztest, man von allen Seiten böse angeguckt und sogar angezischt wurde. So
etwas passiert einem nur einmal, dann weiß man es.
Einmal also ist es mir passiert: Ich hatte das Sakrileg begangen, die hohe
Kunst einer Musik, die nur für Gott bestimmt war, durch mein profanes
menschliches Klatschen zu entweihen. Nie wieder habe ich eine solche
schockartig hereinbrechende Fremdheit in einem vermeintlich vertrauten
Bezugsrahmen erlebt. Ich war nicht mehr Teil dieses Publikums, ich hatte mich
ausgeschlossen oder wurde ausgeschlossen, je nach Bezugsperspektive. Die
Fremdheitserfahrung war nachhaltig und tauchte übrigens in schwächerer Form
auch in vielen Alltagssituationen im Umgang mit Niederländern auf.
Der Unterschied zwischen ästhetischem und evangelischen Musikerleben war
mir geläufig, nur die calvinistische Konsequenz hierin hatte ich noch nie
erfahren. Und soweit ich das überblicke, gibt es das heute auch nicht mehr.
Allerdings: Funktioniert der Bezugsrahmen des ästhetischen Erlebens „ernster“
Musik in heutigen europäischen Konzertsälen eigentlich so ganz anders? Auch
hier versammeln sich Menschen in äußerster Disziplin, um sich zwei oder mehr
Stunden lang einer hoch kunstvollen Musik hinzugeben. Dieses Stillsitzen, diese
Körperkontrolle, diese Konzentration, dieses Schweigen: Richten sich diese
asketischen Fähigkeiten auf die Musik allein oder auf etwas dahinter oder auf
etwas ganz Anderes? „Huster“ werden böse angeguckt und wehe, deine Tüte mit den
Hustenbonbons knistert!
Über Bezugsrahmen gesprochen: Einmal haben wir ein ganz anderes Beispiel
erlebt. In einer szenischen Aufführung der Händeloper Acis und Galatea saß in der ersten Reihe ein junges Mädchen mit
Blindenhund. Als auf der Bühne Polyphemos und Acis im Kampf miteinander umher
trampelten, dass der Boden erzitterte, wurde der Hund unruhig und begann
schließlich zu bellen. Die Sänger unterbrachen die Szene und bogen sich vor
Lachen; der ganze Saal lachte mit. Polyphemos bat die junge Dame in vollendeter Höflichkeit, ob sie sich nicht eventuell etwas weiter nach hinten setzen
könnte. Der Hund führte sie. Und weiter ging’s.
Trouble with Polyphemos |
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