“Nach der Suppe trug man den garnierten Tafelspitz auf,
das Sonntagsgericht des Alten seit unzähligen Jahren. Die wohlgefällige
Betrachtung, die er dieser Speise widmete, nahm längere Zeit in Anspruch als
die halbe Mahlzeit. Das Auge des Bezirkshauptmanns liebkoste zuerst den zarten
Speckrand, der das kolossale Stück Fleisch umsäumte, dann die einzelnen
Tellerchen, auf denen die Gemüse gebettet waren, die violett
schimmernden Rüben, den sattgrünen, ernsten Spinat, den fröhlichen, hellen
Salat, das herbe Weiß des Meerrettichs, das tadellose Oval der jungen
Kartoffeln, die in schmelzender Butter schwammen und an zierliche Spielzeuge
erinnerten. Er unterhielt merkwürdige Beziehungen zum Essen. Es war, als äße er
die wichtigsten Stücke mit den Augen, sein Schönheitssinn verzehrte vor allem
den Gehalt der Speisen, gewissermaßen ihr Seelisches; der schale Rest, der dann
in Mund und Gaumen gelangte, war langweilig und mußte unverzüglich verschlungen
werden. Die schöne Ansicht der Speisen bereitete dem Alten ebensoviel Vergnügen
wie ihre einfache Beschaffenheit. Denn er hielt auf ein sogenanntes
»bürgerliches« Essen: ein Tribut, den er seinem Geschmack ebenso wie seiner
Gesinnung zollte; diese nämlich nannte er eine spartanische. Mit einem
glücklichen Geschick vereinigte er also die Sättigung seiner Lust mit den
Forderungen der Pflicht. Er war ein Spartaner. Aber er war ein Österreicher.
Er machte sich nun, wie jeden Sonntag, daran, den Spitz
zu zerschneiden. Er stieß die Manschetten in die Ärmel, hob beide Hände, und
indem er Messer und Gabel an das Fleisch ansetzte, begann er, zu Fräulein
Hirschwitz gewendet:»Sehn Sie, meine Gnädige, es genügt nicht, beim Fleischer
ein zartes Stück zu verlangen. Man muß darauf achten, in welcher Art es
geschnitten ist. Ich meine, Querschnitt oder Längsschnitt. Die Fleischer
verstehen heutzutage ihr Handwerk nicht mehr. Das feinste Fleisch ist
verdorben, nur durch einen falschen Schnitt. Sehen Sie her, Gnädigste! Ich kann
es kaum noch retten. Es zerfällt in Fasern, es zerflattert geradezu. Als Ganzes
kann man's wohl ›mürbe‹ nennen. Aber die einzelnen Stückchen werden zäh sein,
wie Sie bald selbst sehen werden. Was aber die Beilagen, wie es die
Reichsdeutschen nennen, betrifft, so wünsche ich ein anderes Mal den Kren,
genannt Meerrettich, etwas trockener. Er darf die Würze nicht in der Milch
verlieren. Auch muß er knapp, bevor er zum Tisch kommt, angerichtet werden. Zu
lange naß gewesen. Ein Fehler!«”
Joseph
Roth, Radetzkymarsch, (1932) 2. Kapitel
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