Darüber kann ich mich immer noch ärgern. Der Satz sollte
doch Werbung fürs Lesen machen und nicht für einen mächtigen und
selbstgefälligen Schriftsteller. Und man stelle sich “Ilsebill salzte nach” auf
ein T-Shirt gedruckt vor! Damit geht doch keiner auf die Straße! Auf
Küchenschürzen kann ich es mir dagegen ganz gut vorstellen. (Komisch: Auf
Google ist nichts dergleichen zu finden. Sollte ich ein Loch im Markt entdeckt
haben, oder kochen die deutschen Intellektuellen nicht mehr?)
Ihr ahnt vielleicht: Mein Unwille hat natürlich auch mit
meinem eigenen, erfolglosen Beitrag zu tun. Das war nämlich der erste Satz
einer ganz kleinen Geschichte von Arthur Schnitzler, “Amerika”, die ich schon einmal in Café Deutschland gesetzt habe:
“Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen
Weltteil…”
Anders als bei Ilsebill versteht hier jeder, worum es geht
beziehungsweise jeder kann sich seinen Teil dazu denken. Man musste für den
Wettbewerb eine Begründung schreiben. Ich habe sie gestern wiedergefunden und
finde sie immer noch gut. Ihr könnt sie im Folgenden lesen:„Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil…“
(Arthur Schnitzler, Amerika)
Ein kurzer erster Satz ist dies; eigentlich sind es sogar zwei erste Sätze, getrennt durch ein Semikolon, nicht Punkt, nicht Komma, eine Brücke zwischen den Sätzen, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Land und Meer, eine kleine Zäsur des Zögerns, der Moment der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft: Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen…
Die drei Punkte am Ende des Satzes kennzeichnen die Offenheit, die Erwartung,
die Hoffnung, die quälende Verzögerung, die Gewissheit der sich vollziehenden
unabwendbaren Gegenwart. Und die Gegenwartsform ist auch die Erzählzeit: Das
Schiff landet; ich setze meinen Fuß…; die erregende eigene Aktion geschieht, der Schritt muss
getan werden – es gibt keine Alternative: ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil, eine pathetische
Formulierung, die große Utopie der Neuen Welt ist greifbar nahe, die
Ungewissheit aber auch dessen, was kommt.
Und dann steht der Ich-Erzähler allein inmitten der hastenden Menge der
Auswanderer, die in Manhattan an Land eilen (erst wenige Jahre später wird
Ellis Island gebaut werden, um der wachsenden Millionenzahlen der Einwanderer
Herr zu werden); sie alle sind fasziniert vom Angekommensein in Amerika. Er allein
steht, er steht im Nebel eines grauen Herbstmorgens, hinter dem die große Stadt
New York nur zu erahnen ist, und im
nächsten Moment ist er auch wirklich ganz allein am Ufer. Der Boden schwankt
unter seinen Füßen. Denn für ihn bedeutet ’Amerika‘ noch etwas ganz Anderes, etwas Intimes, Schmerzliches aus
seiner Vergangenheit, die ihn jetzt einzuholen beginnt. Die Erinnerung an einen
verlorenen Augenblick des Glücks und der Leidenschaft erfasst ihn mit aller
Macht…
Der Leser erfährt jetzt in einem
Flashback die Geschichte jenes ganz anderen Amerika aus den fernen, schönen
Zeiten in der Alten Welt. Dieses andere Amerika ist etwas Überraschendes, Unerwartetes,
aber auch etwas völlig Unkompliziertes, Einfaches, eine süße, kleine Utopie des
alltäglichen Glücks.
Ich werde es hier nicht verraten,
denn das gehört zum Spiel, zum Spiel des schönsten ersten Satzes und zum Spiel
der Literatur überhaupt: dass man nichts verrät. Die Spannung, die Erwartung,
die durch Sätze aufgebaut, entfaltet und auf den Höhepunkt getrieben wird,
diese Spannung muss von jedem einzelnen Leser selbst erlesen und erfahren
werden. Nur eines mag deutlich sein: es ist eine traurige Geschichte und das
Ende bleibt offen. Auch die große Leere zwischen dem Damals und dem Heute des
Geschehens muss der Leser mit seiner Einbildungskraft füllen: das ist Lesen.
P.S. Wer die Erzählung ’Amerika‘ nicht zur Hand hat, kann sie sich schnell
über www.spiegel.gutenberg.de vor
Augen holen.
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