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Donnerstag, 26. Januar 2012

Das Ornament der Masse


Es gibt einen schönen Essay mit dem Titel ‘Das Ornament der Masse’, den Siegfried Kracauer 1927 geschrieben hat. Kracauer schreibt über den neuen Umgang mit dem menschlichen Körper in den Revuetheatern, in den Stadien, in den Kinos seiner Zeit:
‚Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich auf australischem und indischen Boden, von Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in das sie noch gar nicht gedrungen sind, wird durch die Filmwochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die Leinwand belehrt, dass die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte Menge zu.‘
Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, 50-63



Die Europäer der zwanziger Jahre beschäftigten sich obsessiv mit dem Thema der Massen. Die intellektuelle Elite hatte Angst vor der Masse, Angst vor der erwarteten Überbevölkerung. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution hatten vorgeführt, was aggressive Massen bewirken können. Die Kulturbürger suchten tieferschrocken nach Erklärungen und Rezepten zur Kontrolle der kulturlosen Massen.
Kracauer stellt das Phänomen des ornamentalen Kollektivkörpers in einen Zusammenhang mit dem kapitalistischen Produktionsprozess. „Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik.“ Vielleicht konnte es ihm 1927 noch nicht auffallen, dass alle drei großen Ideologien der zwanziger und dreißiger Jahre in ihren ästhetischen Produkten die Masse als Ornament vorführten: nicht nur der amerikanische Kapitalismus, sondern auch der sowjetische Kommunismus und der deutsche Nationalsozialismus.
Alle drei politisch-ideologischen Systeme, die in diesen Jahrzehnten miteinander konkurrierten und schließlich durch den deutschen Faschismus in die Weltkatastrophe gejagt wurden, gebrauchten Körperbilder und ornamentale Strukturen in Massenszenen, die sich verblüffend ähneln. Die romantisierte Lebenswelt der amerikanischen Kavalleriesoldaten in John Fords Western der dreißiger bis fünfziger Jahre präsentiert sich uns in absolut vergleichbaren Bilder- und Männerwelten wie in Leni Riefenstahls Wehrmachtsfilm von 1935 (Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht).
Ich habe diese Ähnlichkeit nirgendwo in der Literatur thematisiert gesehen. Um sie feststellen zu können, muss man beide Bilderwelten gesehen haben und die Ähnlichkeit zunächst einmal konstatieren. Und wenn man sie nicht akzeptieren will, muss man sich klarmachen, worin Fords  Nähe zu Riefenstahl besteht und was bei Riefenstahl so entsetzlich über Ford hinausgeht. Die Augen schließen hilft nicht.

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