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Samstag, 9. Juni 2012

Walter Kappacher, Land der roten Steine (3): Der Ruhestand

Im dritten Teil des Romans ist Wessely zurück im heimatlichen Gastein. Erst jetzt erfährt er vom Tode seines Vaters und seines einzigen Freundes Hans. Vorher waren schon seine Mutter und seine frühere Frau gestorben. Es wird einsam um ihn, und nun wird er auch noch seine Arbeit verlieren und sein Haus aufgeben. Er steht vor dem „Ruhestand“. Von Tag zu Tag schneit es mehr. „Der Schnee bedeckte jetzt anscheinend die ganze Welt“ (136). Das schränkt seine Bewegungsfähigkeit ein. Die Kutsche mit zwei Pferden (vergleiche Kafka: Ein Landarzt!), die täglich zum Gasthof Prossau fährt (dort in der Nähe war seine erste Begegnung mit Monica), will er nicht benutzen. Immer mehr ähnelt seine Situation der des Landarztes in Kafkas Erzählung. Das neue, das andere Leben: es will einfach nicht kommen. Die österreichische Bergwelt wird zur düsteren Gegenwelt der Canyonlands. Die Zeit läuft davon, das kurze Leben: „Plötzlich wischten die Jahre an ihm vorüber, und er dachte: Aber das war ja nichts!“ (139).

Und doch: Eines Tages beginnt es kurz zu tauen, und er erinnert sich an sein tiefstes Erlebnis vom Anfang seiner Reise:
„Er dachte, in meiner Reiseerzählung hab ich den Zustand, in den dieser Anblick mich am ersten Reisetag versetzt hat, zu beschreiben versucht, aber er war für mich jenseits des sprachlich Erfassbaren gewesen. Es handelte sich um etwas Unaussprechliches; er hatte – wie viele Wochen war das schon wieder her – sogar davor kapituliert, das, was sichtbar gewesen war, zu beschreiben, ohne die Empfindungen, die es auslöste. Etwas hatte sich in ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form und gleichzeitig etwas wie strahlende, rätselhafte Energie. Seit unvorstellbaren Zeiten war es da gewesen, seit Ewigkeiten, so kann man Zeitläufte nennen, die dem Menschen unfassbar sind. Es zu schauen, war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen. Er wünschte sich heftig, diese Erinnerung kehre irgendwann wieder, er war sicher, dies würde ihm helfen zu dem neuen Leben zu gelangen, das er sich so sehr wünschte“ (149).
Die mystische Überhöhung, die hier einsetzt, unterstützt Kappacher noch mit den Schriften von Meister Eckhart und Paracelsus, die er Wessely lesen lässt. „Mit zwei Stichwörtern aus dem Index der Eckhart-Ausgabe wollte er sich einmal beschäftigen, mit dem Begriff des Lassens und jenem des Nichts. Beides, so fühlte er, hatte mit seinem künftigen Leben zu tun“ (146).
Kurz darauf trifft das Telegramm der verschwundenen Monica ein, in dem sie ihre Wiederkehr für den kommenden Mai und ihren Plan, in Europa zu bleiben, ankündigt. Dea ex machina? Der Traum der folgenden Nacht spricht dagegen:
„Auf einmal befand er sich mit ihr im Horseshoe Canyon. Monica streckte einen Arm aus und zeigte auf zwei sehr dunkelfarbige Figuren, sie bestanden nur aus einem kopfähnlichen Umriss, aus kantigen Schultern, und aus diesen Schultern wuchsen schlierenartige Bänder, die am Ende in feinen Windungen ausliefen. Monica bewegte sich auf die Figuren zu. Er rief ihr nach, aber sie war schon verschwunden, und er überlegte, wie er sich ihr anschließen könnte, doch die schmale Öffnung hatte sich schon wieder geschlossen“ (153).
Wessely beginnt, seinen Zustand und seine Einsamkeit zu akzeptieren. Er stellt sich die Bücher zurecht, die er lesen möchte, unter anderen eine schöne Goethe-Ausgabe. Seine Gedanken drehen sich um Gott und das Nichts. So bleibt wenig Hoffnung auf eine vita nuova. Stattdessen Neuschnee. „Die unberührten Schneewächten an den Wegrändern – derzeit konnte er sich nichts Schöneres vorstellen.“ (158). Das Begrüßungsfeuerwerk für das Neue Jahr: er will es nicht hören. Wir müssen uns Wessely als einen zufriedenen Menschen vorstellen.

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