„Die Erinnerung
an Monica schien sich endlich in entlegene Canyons (sic!) seines Kopfes
zurückgezogen zu haben“ (12), sagt der Erzähler am Anfang über Wessely, aber
als dieser sich hinsetzt und den Bericht seiner Reise schreiben will, kehrt sie
zurück: „Hier sitze ich, ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das
im Gestaltlosen hinter mir liegt und dessen ich doch innegeworden war…“ („Ein
alter Landarzt“? Hier öffnet Kappacher ein Fensterchen zu Kafkas Erzählung Ein Landarzt!) Und Wessely spricht die
Abwesende an:
„Heute Nacht hat
mir wieder einmal von dir geträumt, Monica. Wir standen auf der Treppe meines
Hauses, und ich überlegte: hinauf oder hinunter? Nun denke ich schon seltener
an dich und schäme mich nicht mehr meiner verrückten Besessenheit. Unser
Nachmittag war das Schönste, was ich mit einer Frau je erlebt habe. Und du hast
mich in The Maze gebracht. Das seien
ganz andere Gebirge, hast du gesagt, dort sei der Mensch dem, was wir Gott
nennen, näher als hier zwischen den in den Himmel ragenden, unheimlichen, spitzen
Bergen mit ihrem ewigen Eis“ (28).
(Hier deutet sich
zum ersten Mal eine Gegenüberstellung der amerikanischen und der österreichischen
Gebirgswelt an, einer hellen, paradiesischen und einer dunklen, verschneiten,
eisigen Welt.)
Monica hat etwas
Geheimnisvolles, Unergründliches. Sie scheint mit anrüchigen Geldgeschäften zu
tun zu haben. Ihren Aufenthalt im „Grünen Hof“ in Gastein beschreibt sie als
ein prächtiges Versteck und in ihrem Telegramm aus den USA, das Wessely nach
der Reise erreicht, schreibt sie, sie habe drei Jahre „unter falschen
Anschuldigungen“ im Gefängnis gesessen. Sie unterzeichnet mit „Mrs.
Signorelli-Gordon“. Signorelli? Offenbar ist Monica mit einem Italiener verheiratet.
(Und mit diesem Namen verbindet sich einer der größten Renaissance-Maler
Italiens: Luca Signorelli, dessen Hauptwerk das dreiteilige Fresko Das Jüngste Gericht in der Capella Nuova
in Orvieto ist. Das Jüngste Gericht, Paradies und Verdammnis: Kappacher, dem so
viel Zurückhaltung nachgesagt wird, ist in der symbolischen Aufladung seiner
Figuren geradezu aufdringlich!)
Wesselys Träume
drehen sich um Monica, vor, während und nach der Reise. Sie ist die Ursache und
das Ziel dieser Expedition, deren Höhepunkt in der Besichtigung der
Jahrtausende alten Felsmalereien der Great Gallery besteht: rätselhafte,
lebensgroße Figuren. Hier vermischen sich Realität und Traum:
„Ich ging auf der
linken Seite der Gallery entlang, bis ich vor einer Figur beinah erschrak: Es
musste die Abbildung des Holy Ghost
sein, von der Everett während der Wanderung kurz gesprochen hatte. Die Figur
war größer als die anderen, durchsichtig, mit riesigen Augenhöhlen und einem
bis zum Nabel skizzierten schmalen Bart. Dicht neben ihm zur Seite zwei ganz
schwarz gemalte kleinere Figuren, offensichtlich Frauengestalten“ (114-115).
In dem Roman,
dessen Titel Kappacher als Überschrift für sein drittes Kapitel gewählt hat,
Onettis De vida breve (1950),
erfindet sich die vom Leben frustrierte Hauptperson ein Alter Ego in der
imaginierten Kleinstadt Santa Maria, einen Arzt, der sich in eine Patientin
verliebt. In einem selbsttherapeutischen Akt spielt die Hauptperson mit dieser
Figur allerlei alternative Möglichkeiten des Lebens durch, freilich ohne damit
zu einer wirklichen Lösung zu kommen. Dies ist auch das poetologische Prinzip
in Kappachers Roman. Wessely ist nicht Kappacher, er ist sein Avatar.
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