Cookie

Mittwoch, 19. August 2020

Nietzsche (8): Die Vogel-Gedichte



Vogel Albatros

O Wunder! Fliegt er noch?
Er steigt empor, und seine Flügel ruhn!
Was hebt und trägt ihn doch?
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?

Er flog zu höchst - nun hebt
Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden:
Nun ruht er still und schwebt,
Den Sieg vergessend und den Siegenden.

Gleich Stern und Ewigkeit
Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht,
Mitleidig selbst dem Neid - :
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!

O Vogel Albatros!
Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich!
Ich dachte dein: da floß
Mir Thrän' um Thräne - ja, ich liebe dich!


Hier ist meine komplette Auswahl von Vogelgedichten, in denen es einen Bezug zwischen dem Vogelmotiv und der Philosophie Nietzsches gibt. Prinz Vogelfrei, Vogel-Urtheil und Der Freigeist haben wir hier im Blog schon kennengelernt (die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe sämtlicher Gedichte im Kröner Verlag, 2019:

Prinz Vogelfrei (10)
Vogel Albatros (16)
Vogel-Urtheil (17)
Im Süden (43)
Liebeserklärung (46)
Nur Narr! Nur Dichter! (55-57)
An die Melancholie (84)
Es geht ein Wanderer (90)
Schafe (120)
Der Wanderer (132)
Zwei Lerchen (255)
Auf nakter Felsenklippe (270)

Es gibt noch mehr; vor allem in den Jugendgedichten schwirren allerlei Lerchen und Nachtigallen herum, aber die haben noch nicht den speziellen Impetus.

Man könnte an den Vogelgedichten entlang einen spannenden Artikel zum Verhältnis von Poesie und Philosophie bei Nietzsche schreiben: vom anrührenden Prinz Vogelfrei im Kreis der Vögelchen über den in fernsten Höhen schwebenden Albatros zum auf die Lämmer herabstoßenden Adler in „Nur Narr! Nur Dichter“. Und dies sind keineswegs einfach Variationen desselben Motivs und Themas. Man schaue nur auf diese Zeilen aus dem dreiseitigen Gedicht „Nur Narr! Nur Dichter!“:

.. dem Adler gleich, der lange
Lange starr in Abgründe blickt,
in seine Abgründe …
Oh wie sie sich hier hinab,
Hinunter, hinein,
In immer tiefere Tiefen ringeln! –
Dann,
plötzlich,
geraden Flugs
gezückten Zugs
auf Lämmer stoßen,
jach hinab, heißhungrig,
nach Lämmern lüstern,
gram allen Lamms-Seelen,
grimmig gram Allem, was blickt
tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,
dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen …

Also
adlerhaft, pantherhaft
sind des Dichters Sehnsüchte,
sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
du Narr, du Dichter! …

Dies stammt aus den Dionysos-Dithyramben, dem letzten Werk Nietzsches (1889). Aber so sehr es mich auch reizen würde, den Zusammenhängen von Lyrik und Philosophie bei Nietzsche nachzugehen, übersteigt das doch die Absichten meines Blogs.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen