Den Studenten der heutigen Generation steht ein neues Nietzsche-Buch aus kommunistischer Hand zur Verfügung: Domenico Losurdo „Nietzsche, der aristokratische Rebell“ (italienisch 2002, deutsch 2012: Argument-Verlag, Berlin). Der Sprung von Lukács zu Losurdo ist kürzer, als ich zunächst dachte: Der Philosoph Losurdo (1941-2018) war von 1960 bis zu seinem Tod Mitglied der aufeinander folgenden italienischen kommunistischen Parteien, er war ein Freund von Manfred Buhr vom DDR-Philosophieinstitut (siehe Blogpost Nietzsche 4), er war Mitglied in der 1993 gegründeten Nachfolgegesellschaft der DDR-Akademie der Wissenschaften. Er gilt als Apologet des Stalinismus. Ich weiß nicht, ob die Geschichte der intensiven Kontakte zwischen deutschen und italienischen Kommunisten in den interessanten Jahrzehnten zwischen 1950 und 2000 schon erforscht worden ist; das wäre jedenfalls ein schönes Promotions-Projekt.
Beispiel einer Pop-Karikatur, in der der Mensch Nietzsche verzerrt dargestellt wird |
Das monumentale zweibändige Nietzsche-Buch (1061 Seiten) ist im Berliner Argument-Verlag (in Zusammenarbeit mit dem Institut für kritische Theorie) veröffentlicht worden. Die Zeitschrift Argument hatte in den 60/70 Jahren personelle Überschneidungen mit der SEW, der Westberliner Abteilung der DDR-Staatspartei. Dort tummeln sich noch heute die West- und Ostberliner Altlinken der sechziger Jahre. Der Berliner Altlinke Jens Rehmann schreibt die Einleitung zur deutschen Ausgabe von Losurdo, in der er so beflissen auf die Unterschiede zwischen Losurdo und Lukács hinweist, dass ich mich frage, ob die denn wirklich so groß sind. Und dann versucht er, mögliche kritische Fragen an das Buch vorwegzunehmen:
„Sicherlich wird es nicht an kritischen Stimmen fehlen, die Losurdos Untersuchung der ‚Einseitigkeit‘ bezichtigen. Läuft seine methodische Entscheidung, Nietzsche als ‚philosophicus totus politicus‘ zu analysieren, nicht auf eine Überpolitisierung hinaus, die die spezifisch philosophischen und psychologischen Determinanten unsichtbar werden lässt? Geraten ihm die jeweiligen Phasen der nietzscheschen Denkentwicklung nicht doch zu kohärent, als sei es dem Philosophen vornehmlich darum gegangen, die jeweils aktuelle politische Konstellation klarsichtig und auf der Höhe der Zeit zu analysieren?“ (S.16).
Ja, in der Tat: diese Fragen stellen sich mir, denn bei Losurdo begegnet mir ein völlig anderer Nietzsche als in den Biographien von Safranski und Sue Prideaux, nämlich eine Art reisender Politiker und in Sachen Sklaverei und Rassenzüchtung. Überall in der Literatur wurde betont, dass Nietzsche anti-antisemitisch war, jetzt wird er auf einmal als aktiver Antisemit dargestellt.
So richtig wahrgenommen wird das Buch offenbar nur in der linken Medienwelt (und nicht in der deutschen Nietzsche-Forschung). Die differenzierteste Rezension, die ich gefunden habe, stammt von Moshe Zuckermann, zwar auch in der Jungen Welt, dem Nachfolgeblatt der FDJ-Zeitung, aber sehr gut formuliert und argumentiert. Die wissenschaftliche Qualität Losurdos wird darin deutlich; ohne Zweifel ist hier sehr viel Neues und Wichtiges zu Nietzsche erforscht worden. Aber dann gibt Zuckermann einige Ambivalenzen zu bedenken:
„Wenn aber Nietzsches philosophische Ungeheuerlichkeiten nur Ausdruck einer über sein Denkuniversum hinausgehenden Struktur sind, dann gilt es nicht, die ungeheuren Auswüchse seiner Philosophie zu überwinden, sondern den Weltzustand, der sie hervorgebracht hat – welchen diese Philosophie freilich ihrerseits kritisch angeht. Denn trotz allem entlarvenden Rekonstruktionswerk Losurdos kann nicht in Abrede gestellt werden – dies sagt ja Losurdo selbst –, daß gerade Nietzsches Denken zugleich auch vieles zutage fördert, was in seiner bestechenden Tiefgründigkeit und der Stringenz des unbestechlichen Blicks unabweisbare Gültigkeit wahrt: seine rigorose Kritik der westlichen Kultur und der Moderne samt ihrer pseudoemanzipatorischen Vermassungsprozesse, Entfremdungsstrukturen und Verdinglichungsmechanismen sowie ihrer ideologischen Apparaturen, die Individualität postulieren bei objektiver Entindividualisierung des Individuums; die Entlarvung der fundamentalen Verlogenheit des Politischen, das sich letztlich machtbezogenen egoistischen Antriebskräften verdankt, dies aber nach außen stets schönrednerisch kaschiert; der Nachweis des schlüpfrigen Grunds, auf dem die Annahmen des zur Hegemonie gelangten wissenschaftlichen Positivismus basieren – all dies und noch vieles mehr reiht Nietzsche zweifellos in die hehre kritische Tradition der erlauchtesten Geister der westlichen Neuzeit ein.
Somit wären wir im hier erörterten Zusammenhang bei dem angelangt, was uns die Widersprüche und Aporien der Moderne von Anbeginn als oberstes dialektisches Gebot »gelehrt« haben: Man kommt nicht darum herum, die Ambivalenz aushalten zu müssen – die Ambivalenz gegenüber den strukturellen Ungereimtheiten des realen Lebens, aber eben auch denen seiner geistigen Durchdringung und kulturellen Reflexion.“
Das sind gute Ratschläge!
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