Gustav Meyrink, Der heiße Soldat (1913)
Gustav Meyrink |
Es war keine
Kleinigkeit für die Militärärzte gewesen, alle die verwundeten Fremdenlegionäre
zu verbinden. – Die Annamiten hatten schlechte Gewehre und die Flintenkugeln
waren fast immer in den Leibern der armen Soldaten stecken geblieben. –
Die medizinische
Wissenschaft hatte in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, das wußten
selbst diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten, und sie unterwarfen
sich, zumal ihnen nichts anderes übrig blieb, willig allen Operationen.
Zwar starben die
meisten, aber immer erst nach der Operation, und auch dann nur, weil die Kugeln
der Annamiten offenbar vor dem Schuß nicht aseptisch behandelt worden waren,
oder auf ihrem Weg durch die Luft gesundheitsschädliche Bakterien mitgerissen
hatten.
Die Berichte des
Professors Mostschädel, der sich aus wissenschaftlichen Motiven, und von der
Regierung bestätigt, der Fremdenlegion angeschlossen hatte, ließen keinen
Zweifel daran zu.
Seinen energischen
Anordnungen war es auch zu danken, daß die Soldaten wie auch die Eingeborenen
im Dorfe nur noch im Flüstertone von den Wunderheilungen des frommen indischen
Büßers Mukhopadaya sprachen.
Als letzter
Verwundeter wurde lange nach dem Scharmützel der Soldat Wenzel Zavadil, ein
gebürtiger Böhme, von zwei annamitischen Weibern in das Lazarett getragen.
Befragt, woher sie jetzt so spät noch kämen, erzählten sie, daß sie Zavadil wie
tot vor der Hütte des Mukhopadaya liegend gefunden und sodann getrachtet
hätten, ihn durch Einflößen einer opalisierenden Flüssigkeit – das einzige, was
in der verlassenen Hütte des Fakirs zu finden gewesen war –
wieder zum Leben zurückzubringen.
Der Arzt konnte keine
Wunde finden und bekam auf sein Befragen von dem Patienten nur ein wildes
Knurren zur Antwort, das er für die Laute eines slawischen Dialektes hielt. Für
alle Fälle verordnete er ein Klystier und ging in das
Offizierszelt. – – –
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Ärzte und Offiziere
unterhielten sich ausgezeichnet; das kurze, aber blutige Scharmützel hatte
Leben in das alte Einerlei gebracht.
Mostschädel hatte eben
einige anerkennende Worte über Professor Charkot – um die anwesenden
französischen Kollegen sein deutsches Übergewicht nicht allzu schmerzlich
fühlen zu lassen – beendet, als die indische Pflegerin vom roten Kreuz am
Zelteingang erschien und in gebrochenem Französisch meldete:
»Sergeant Henry
Serpollet tot, Trompeter Wenzel Zavadil 41,2 Grad Fieber.«
»Intrigantes Volk,
diese Slawen«, murmelte der Wache habende Arzt, »der Kerl hat Fieber und doch
keine Verwundung!«
Die Wächterin erhielt
die Weisung, dem Soldaten, natürlich dem lebendigen, drei Gramm Chinin in den
Schlund zu stopfen, und entfernte sich. – – –
Professor Mostschädel
hatte die letzten Worte aufgefangen und machte sie zum Ausgangspunkt einer
längeren gelehrten Rede, in der er die Wissenschaft Triumphe feiern ließ, die
es verstanden hatte, das gute Chinin in den Händen von Laien zu entdecken, die
in der Natur, der blinden Henne gleich, auf dieses Heilmittel gestoßen waren.
Er war von diesem
Thema auf die spastische Spinalparalyse übergegangen und die Augen seiner
Zuhörer begannen bereits gläsern zu werden, als wiederum die Wärterin mit der
Meldung erschien:
»Trompeter Wenzel
Zavadil 49 Grad Fieber, bitte um ein längeres
Thermometer.« – – –
»Also demnach schon
längst tot«, sagte lächelnd der Professor. –
Der Stabsarzt stand
langsam auf und näherte sich mit drohender Miene der Wärterin, die sofort einen
Schritt zurückwich. – »Sie sehen, meine Herren«, erklärte der daraufhin zu den
übrigen Ärzten, »das Weib ist ebenfalls hysterisch, wie der Soldat Zavadil;
– – – Duplizität der Fälle!« – Hierauf legten sich alle zur Ruhe.
»Der Herr Stabsarzt
läßt dringend bitten«, schnarrte der Meldereiter den noch sehr verschlafenen
Gelehrten an, als kaum die ersten Sonnenstrahlen den Saum der nahen Hügel
färbten.
Alles blickte
erwartungsvoll auf den Professor, der sich augenblicklich an das Bett Zavadils
begab.
»54 Grad Réaumur
Blutwärme, unglaublich«, stöhnte der Stabsarzt.
Mostschädel lächelte
ungläubig, zog aber entsetzt seine Hand zurück, als er sich an der Stirne des
Kranken tatsächlich verbrannte.
»Nehmen Sie die
Vorgeschichte der Krankheit auf«, sagte der zögernd nach längerem peinlichem
Schweigen zum Stabsarzt. »Nehmen Sie doch die Vorgeschichte der Krankheit auf
und stehen Sie nicht so unentschlossen herum!« schrie der Stabsarzt den
jüngsten der Ärzte an.
»Bhagavan Sri
Mukhopadaya wüßte vielleicht ...« wagte die indische Wärterin zu beginnen.
»Reden Sie, wenn Sie
gefragt werden«, unterbrach sie der Stabsarzt.
»Immer der alte
verdammte Aberglauben«, fuhr er, zu Mostschädel gewendet, fort.
»Der Laie denkt immer
an das Nebensächliche«, begütigte der Professor. – »Senden Sie mir nur den
Bericht, ich habe jetzt dringend zu tun.« – –
»Nun, junger Freund,
was haben Sie eruiert«, fragte der Gelehrte den Subalternarzt, hinter dem sich
eine Menge Offiziere und Ärzte wißbegierig in das Zimmer
drängten.
»Die Temperatur ist
inzwischen auf 80 Grand gestiegen ...«
Der Professor machte
ein ungeduldige abwehrende Bewegung: Nun?
»Patient machte vor
zehn Jahren einen Typhus durch, vor zwölf Jahren eine leichte Diphtheritis;
Vater an Schädelbruch gestorben, Mutter an Gehirnerschütterung; Großvater an
Schädelbruch, Großmutter an Gehirnerschütterung! – Der Patient und seine
Familie stammen nämlich aus Böhmen«, fügte der Subalternarzt erklärend hinzu.
»Befund, Temperatur ausgenommen, normal, – Abdominalfunktionen sämtlich träge;
– Verwundung, außer leichten Kontusionen am Hinterkopf, nicht auffindbar. –
Patient soll angeblich in der Hütte des Fakirs Mukhopadaya mit einer
opalisierenden Flüssigkeit ...«
»Zur Sache, nicht in
das Unwesentliche abschweifen, junger Freund«, ermahnte gütig der Professor und
fuhr, seinen Gästen mit einer einladenden Handbewegung die umherstehenden
Bambuskoffer und Stühle als Sitze anbietend fort: »Es handelt sich hier, meine
Herren, wie ich schon heute früh auf den ersten Blick erkannte, Ihnen aber nur
andeutete, damit Sie selber Gelegenheit fänden, den richtigen Weg zur Diagnose
einzuschlagen, um einen nicht allzuhäufigen Fall von spontaner
Temperaturerhöhung infolge einer Verletzung des Thermalzentrums« – (mit einer
leicht geringschätzigen Miene zu den Offizieren und Laien:) »des Zentrums im
Gehirn, das die Temperaturschwankungen des Körpers vermittelt – auf Basis
erheblicher und akquirierter Belastung. – Wenn wir ferner die Schädelbildung
des Subjektes – – –«
Hornsignale der
Ortsfeuerwehr, die aus einigen invaliden Soldaten und chinesischen Kulis
bestand, drangen Schrecken verkündend vom Missionsgebäude herüber und ließen
den Redner verstummen. –
Alle stürzten ins
Freie; der anwesende Oberste voran.
Vom Lazaretthügel
herab zum See der Göttin Parvati raste, einer lebenden
Fackel gleich, gefolgt von einer schreienden und gestikulierenden Menge, der
Trompeter Wenzel Zavadil in brennende Fetzen gehüllt.
Knapp vor dem
Missionshause empfing den Armen die chinesische Feuerwehr mit einem armdicken
Wasserstrahl, der ihn zwar zu Boden warf, sich aber fast gleichzeitig in eine
Dampfwolke verwandelte. – – – Die Hitze des Trompeters hatte sich im
Lazarett zuletzt derart gesteigert, daß die neben ihm stehenden Gegenstände zu
verkohlen angefangen hatten und die Wärter schließlich gezwungen waren, Zavadil
mit Eisenstangen aus dem Hause zu scheuchen; die Fußböden und Treppen wiesen
seine eingebrannten Fußstapfen, als ob der Teufel dort spazieren gegangen
wäre. –
Jetzt lag Zavadil
nackt, – die letzten Fetzen hatte der Wasserstrahl fortgerissen – auf dem
Vorhofe des Missionsgebäudes, dampfte wie ein Bügeleisen und schämte sich
seiner Blöße. – – –
Ein findiger
Jesuitenpater warf ihm einen alten Asbestanzug, der einmal einem Lavaarbeiter
gehört hatte, vom Balkon zu, in den sich Zavadil unter Dankesworten hüllte.
»Wie, um Gottes
willen, soll man sich aber erklären, daß der Kerl nicht selbst gänzlich zu
Asche verbrennt?« fragte der Oberst den Professor Mostschädel. –
»Ich bewundere stets
Ihre strategischen Talente, Herr Oberst«, entgegnete der Gelehrte indigniert,
»aber was die medizinische Wissenschaft anbetrifft, so müssen Sie diese schon
uns Ärzten überlassen. – Wir müssen uns an die gegebenen Tatsachen halten, und
diese aus den Augen zu lassen, liegt für uns keinerlei Indikation vor!« –
Die Ärzte freuten sich
der klaren Diagnose, und abends traf man immer wieder im Zelte des Kapitäns
zusammen, wo es dann stets lustig herging.
Von Wenzel Zavadil
sprachen nur noch die Annamiten; – – zuweilen sah man ihn am anderen Ufer
des Sees beim Steintempel der Göttin Parvati sitzen, und
die Knöpfe seines Asbestanzuges erstrahlten in Rotglut. – –
Die Priester des
Tempels sollten ihr Geflügel an ihm braten, hieß es; andere sagten wiederum, er
sei bereits im Abkühlen begriffen und gedenke, schon mit 50 Grad in seine
Heimat zurückzukehren.
Gustav Meyrink, Des deutschen Spießers Wunderhorn, 1913
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