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Donnerstag, 1. August 2013

Der Einzige unter den Vielen, ratlos - Botho Strauß und der Plurimi-Faktor


Der Meister der kurzen und ganz kurzen Geschichten am Anfang des 20. Jahrhunderts war Franz Kafka, ein Meister auch in der Diagnose seiner Zeit. Hundert Jahre später ist das - was die deutsche Literatur betrifft - Botho Strauß, zuletzt in seinem Spätwerk “Vom Aufenthalt” (2009), das ich in Café Deutschland erfreut als Darstellungshilfe bei meiner Poetologie des Blogs benutzt habe.

Was die Diagnose der Zeit betrifft, ist Strauß jetzt in eine schizoide Lage geraten. Am 2. September erscheint sein neues Buch “Lichter des Toren”. Im Spiegel dieser Woche steht als Vorabdruck der Essay “Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter”. Er ist ein Dokument seines Scheiterns als Zeitdiagnostiker.

Strauß spricht in der selbst gewählten Rolle des Idioten der Gegenwart, des Toren, des Narren, des Außenseiters (alles Begriffe aus dem Essay), wohl wissend, dass diese Attitüde im heutigen “Hauptstrom”  - das Wort Mainstream kommt nicht über seine Lippen - so gut wie verschwunden ist. Der “Tor” ist gleichwohl für ihn die ultimative Rückzugsrolle des wahren Kulturträgers.

Sein Thema ist die Herrschaft der Vielen (Plurimi), die sich seit Jahrzehnten im Kulturbetrieb herausgebildet hat und die wahre Kultur in ein hilfloses Abseits drängt. “Während Intelligenz zur Massenbegabung wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben.” Das “Netz” ist die Bühne der Gegenwart, “die nichts und niemanden ausschließt”. “Die Geste am Ausgang der Neuzeit ist das Handy am Ohr (oder der einsam vor sich hin Quatschende mit Headset, die getreue Kopie des Idioten).”


Der Mann vom Lande - Botho Strauß
Durch seinen Auftritt im Massenblatt “Der Spiegel” in der Rolle des einsam vor sich hin quatschenden Idioten gerät Strauß mit seinem Headset in eine schizoide Doppelrolle, die ihm zum Verhängnis wird. Die natürliche Person Botho Strauß erschafft sich einen Popanz, modern gesprochen, einen Avatar seiner selbst, den er gegen den Geist der Zeit – und damit letztlich gegen sich selbst - ins Rennen schickt. Das kann nicht gut gehen. Wir kennen diese Geschichte schon. Franz Kafka hat sie uns erzählt.

Im Folgenden habe ich in Kafkas Geschichte “Vor dem Gesetz” die Worte “Türhüter” und “Gesetz” durch “Popanz” und “Internet” ersetzt. Es lohnt sich, den Text in der neuen Variante bis zum Ende zu lesen. Er wirft ein Licht auf den Toren Botho Strauß, diesen armen Idioten, diesen Narren und Außenseiter:

Vor dem Internet

Vor dem Internet steht ein Popanz (der selbst erschaffene Avatar von Botho Strauß). Zu diesem Popanz kommt ein Mann vom Lande (die natürliche Person Botho Strauß aus der Uckermark) und bittet um Eintritt in das Internet. Aber der Popanz sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Popanz, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Internet offensteht wie immer und der Popanz beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Popanz das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Popanz. Von Saal zu Saal stehn aber Popanze, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Internet soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Popanz in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Popanz gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Popanz durch seine Bitten. Der Popanz stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Popanz zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Popanz fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Popanze, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Internet. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Popanz auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Popanz umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Internets bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Popanz noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Popanz muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Popanz, »du bist unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Internet«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Popanz erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

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