Der Meister der kurzen und ganz kurzen Geschichten am
Anfang des 20. Jahrhunderts war Franz Kafka, ein Meister auch in der Diagnose
seiner Zeit. Hundert Jahre später ist das - was die deutsche Literatur betrifft - Botho Strauß,
zuletzt in seinem Spätwerk “Vom Aufenthalt” (2009), das ich in Café Deutschland erfreut
als Darstellungshilfe bei meiner Poetologie des Blogs benutzt habe.
Was die Diagnose der Zeit betrifft, ist Strauß jetzt in eine schizoide Lage geraten. Am 2. September erscheint sein neues Buch “Lichter des Toren”. Im Spiegel dieser Woche steht als Vorabdruck der Essay “Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter”. Er ist ein Dokument seines Scheiterns als Zeitdiagnostiker.
Was die Diagnose der Zeit betrifft, ist Strauß jetzt in eine schizoide Lage geraten. Am 2. September erscheint sein neues Buch “Lichter des Toren”. Im Spiegel dieser Woche steht als Vorabdruck der Essay “Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter”. Er ist ein Dokument seines Scheiterns als Zeitdiagnostiker.
Strauß spricht in der selbst gewählten Rolle des
Idioten der Gegenwart, des Toren, des Narren, des Außenseiters (alles Begriffe
aus dem Essay), wohl wissend, dass diese Attitüde im heutigen “Hauptstrom” - das Wort Mainstream kommt nicht über seine
Lippen - so gut wie verschwunden ist. Der “Tor” ist gleichwohl für ihn die
ultimative Rückzugsrolle des wahren Kulturträgers.
Sein Thema ist die Herrschaft der Vielen (Plurimi),
die sich seit Jahrzehnten im Kulturbetrieb herausgebildet hat und die wahre
Kultur in ein hilfloses Abseits drängt. “Während Intelligenz zur Massenbegabung
wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben.” Das “Netz” ist die Bühne
der Gegenwart, “die nichts und niemanden ausschließt”. “Die Geste am Ausgang
der Neuzeit ist das Handy am Ohr (oder der einsam vor sich hin Quatschende mit
Headset, die getreue Kopie des Idioten).”
Durch seinen Auftritt im Massenblatt “Der Spiegel” in
der Rolle des einsam vor sich hin quatschenden Idioten gerät Strauß mit seinem Headset in
eine schizoide Doppelrolle, die ihm zum Verhängnis wird. Die natürliche Person
Botho Strauß erschafft sich einen Popanz, modern gesprochen, einen Avatar
seiner selbst, den er gegen den Geist der Zeit – und damit letztlich gegen sich
selbst - ins Rennen schickt. Das kann nicht gut gehen. Wir kennen diese Geschichte
schon. Franz Kafka hat sie uns erzählt.
Der Mann vom Lande - Botho Strauß |
Im Folgenden habe ich in Kafkas Geschichte “Vor dem
Gesetz” die Worte “Türhüter” und “Gesetz” durch “Popanz” und “Internet”
ersetzt. Es lohnt sich, den Text in der neuen Variante bis zum Ende zu lesen.
Er wirft ein Licht auf den Toren Botho Strauß, diesen armen
Idioten, diesen Narren und Außenseiter:
Vor dem Internet
Vor dem Internet steht ein Popanz (der selbst
erschaffene Avatar von Botho Strauß). Zu diesem Popanz kommt ein Mann vom Lande (die natürliche Person Botho Strauß aus der Uckermark) und bittet um Eintritt in
das Internet. Aber der Popanz sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht
gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde
eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Popanz, »jetzt aber nicht.« Da das
Tor zum Internet offensteht wie immer und der Popanz beiseite tritt, bückt sich
der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Popanz das merkt,
lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines
Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste
Popanz. Von Saal zu Saal stehn aber Popanze, einer mächtiger als der andere.
Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche
Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Internet soll doch
jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Popanz in
seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen,
schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er
die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Popanz gibt ihm einen Schemel und läßt
ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er
macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Popanz durch seine
Bitten. Der Popanz stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über
seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie
sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn
noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem
ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Popanz zu
bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an,
damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet
der Mann den Popanz fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Popanze, und
dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Internet.
Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und
laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird
kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Popanz auch die Flöhe in
seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den
Popanz umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht,
ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl
aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe
des Internets bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln
sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher
an den Popanz noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden
Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Popanz muß sich tief zu ihm
hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes
verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Popanz, »du bist
unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Internet«, sagt der Mann, »wieso
kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der
Popanz erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes
Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß
erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und
schließe ihn.«
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