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Dienstag, 15. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (11): Korrekturen

Im Laufe meiner Reihe von Blogposts, die am 3. März begonnen hat, habe ich weiterhin versucht, über einzelne Aspekte mehr Aufschluss zu bekommen. Dabei sind ein paar Korrekturen notwendig geworden:

-       Das befreundete Ehepaar Jo und Frits Schreve-Ijzerman hat eine größere Rolle bei der Planung des offiziellen Geschlechtswechsel von Frederika zu Frederik gespielt, als ich in den ersten Beiträgen geschrieben habe. Sie haben für Fré die gesamte Planung vom juristischen Schritt über die praktischen Dinge bis zur Information des Bekanntenkreises übernommen, während er diese Phase großenteils in Italien abwartete. Frits war Arzt und hat Fré die Versicherung gegeben, dass er körperlich ein Mann sei und „ganz gewiss kein Hermaphrodit“. Das wurde in Groningen dann noch von zwei Ärzten offiziell bestätigt. Er war also auch nicht ein Fall, bei dem erst durch eine Operation das eine oder das andere Geschlecht hergestellt wird. Wohl hatte er feminine Merkmale: keinen Bartwuchs, eine hohe Stimme, und er war nicht zeugungsfähig. Es war Jo Schreve-Ijzerman, die für ihn in Amsterdam bei Meyer am Koningsplein die Männergarderobe besorgte: einen Anzug, Hüte, Handschuhe, Regenmantel, Oberhemden, Nachthemden, Jäger-Hosen, Manschetten, 12 Paar Socken und 24 Taschentücher, weiter eine Taschenuhr mit Kette, zwei Paar Herrenschuhe, ein Portemonnaie und andere Kleinigkeiten. Seine Mäzenin Geesje wird wohl alles bezahlt haben. Diese Informationen habe ich aus dem Artikel „Van vrouw naar man. Kunstenares Free Jeltsema wordt in 1906 kunstenaar“ von Frouke Schrijver (Ons Amsterdam gebouwd op verhalen, 1. Juli 2020).

 

-       Dort findet sich auch die Mitteilung, dass Jeltsema schon 1901, während seines letzten Studienjahres, zusammen mit dem Bildhauer Pier Pander nach Rom gereist ist und bei ihm seine Ausbildung fortgesetzt hat. Er wohnte in der Zeit bei der Familie des italienisch-niederländischen Malers Romolo Koelman. Er war also schon früher und länger in Rom, als ich bisher gedacht hatte. In der Biographie auf der Website www.mesdagvancalcar.nl wird dieser Mitteilung kein Glauben geschenkt, weil er ja noch in Amsterdam sein Studium habe vollenden müssen. Das ist sehr formalistisch gesehen und verkennt die liberalen Möglichkeiten eines Kunststudiums in den damaligen Niederlanden. Die zeigen sich auch in den vier Auslandsjahren nach der Zuerkennung des „Prix de Rome“ (1902)


-       Meine dritte Korrektur betrifft die Marmorskulptur einer Bacchantin (1910), die 1960 der Gemeinde Groningen geschenkt wurde. Ich habe in meinem vierten Beitrag vom 8. März ein Foto davon veröffentlich, das aus dem „Jeltsemasaal“ des gerade genannten Webmuseums stammt und wo als Standort das Groninger Rathaus genannt wird. Ich war nun gestern zum ersten Mal da und habe einige Fotos machen können. Die dort stehende Statue ist jedoch nicht identisch mit der aus dem Webmuseum, bei der unter anderem die Statuenstütze an den Beinen in Form eines mit Blättern und Trauben verzierten Baumstrunks fehlt. Dazu mehr in meinem nächsten Beitrag.


Sonntag, 13. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (10): 1940-45, zwei Kunstwerke unter deutscher Besetzung

1940 wurden die Niederlande von deutschen Truppen besetzt. Jeltsemas große Villa in Scheveningen, die er 1936 von seiner Mäzenin Geesje Mesdag-van Kalkar geerbt hatte, wurde von den Deutschen requiriert. Offenbar hatte er vorher noch Zeit, seine Skulpturen in einem Schuppen bei seiner Schwester unterzubringen. Der Jüngling ist jedenfalls nicht in deutsche Hände gefallen.

Jeltsema ging in den Besatzungsjahren nach Haren, einem reichen Vorort von Groningen. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Scheveningen und bewohnte bis zu seinem Tode 1971 sein prachtvolles Haus.

Dem „Sitzenden Merkur“ ist es nicht so gut ergangen. Nachdem Italien 1943 vom Verbündeten zum Feind Deutschlands wurde, begannen die Deutschen ein grauenvolles Besatzungsregime und ermordeten Tausende von Italienern. Außerdem beuteten sie das Land aus und stahlen viele Kunstschätze, darunter auch den Merkur aus Neapel. So weit ich weiß, wurde er nach Berlin gebracht. Wo er dort hinkam, ist mir nicht bekannt.

Nach Kriegsende brachten ihn die Amerikaner noch 1945 nach Neapel zurück. Aber irgendwo zwischen Berlin und München geschah ein Unglück mit der Skulptur: der Kopf brach ab und zersplitterte in viele Scherben. Das klingt sehr schockierend, doch wir wissen von der jahrhundertealten Kunstfertigkeit der Neapolitaner Bronzegießereien, die auch in diesem Fall den Kopf so restaurieren konnten, daß nur einem sehr sachkundigen Betrachter etwas auffällt:


Restauriertes Gesicht mit schwach erkennbaren Bruchlinien
und ergänzter Rotfärbung (Foto: Henry Lie)



Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (9): Das Ensemble auf dem Emmaplein

Außer dem „Sitzenden Jüngling“ auf der östlichen Seite des Emmapleins befinden sich noch zwei moderne Kunstwerke auf dem westlichen Halbkreis: der Video Busstop (2008) von Rem Koolhaas und das Anti-Kernwaffen-Denkmal (1985) von Hugo Hol.

Hugo Hol, Anti-Kernwaffen-Monument 1985)


Zum Busstop von Rem Koolhaas gibt es ein Video, das im Kreis um die Busstation herumfährt und dabei einen guten Gesamteindruck vom Platz und der ihn umgebenden Bebauung vermittelt. Auch unser Jüngling ist ganz kurz zu sehen:




Samstag, 12. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (8): Der Jüngling in seiner Umgebung

Was die Platzierung der Statue betrifft, hat die Gemeinde Groningen 1960 eine glückliche Hand gehabt. Mir ist nicht bekannt, ob hierbei auch ein Wunsch von Fré Jeltsema eine Rolle gespielt hat. Der lebensgroße sitzende Bronzejüngling passt in Gestaltung und Haltung perfekt auf den ihn umgebenden Emmaplein.

Der Emmaplein befindet sich im schönsten Bereich der Innenstadt zwischen zwei breiten Alleen mit Grünstreifen und alten ehrwürdigen Bürgerhäusern und Villen. Der Platz ist kreisrund und mit Ausnahme der schmalen Querwege vollständig mit alten Bäumen, Gras und Blumen bepflanzt. Eine Busspur führt mitten durch den Platz, der restliche Verkehr fährt im Kreis drumherum. Das war übrigens schon in Jeltsemas Jugend so, nur fuhr hier damals die Tram, die den Großen Markt mit dem Bahnhof verband.

Die Haltestelle mit Wartebänken sorgt für ein (nicht sehr betriebiges) Ein- und Aussteigen von Fahrgästen. Der Jüngling sitzt in zehn Metern Entfernung und scheint sich die Vorübergehenden anzuschauen. Außer seiner Nacktheit ist an ihm nichts Auffälliges. Er ist von allen Seiten gleichwertig zu betrachten und fügt sich natürlich auf dem Platz ein. In Frontansicht schaut er dem Betrachter gerade in die Augen. Er hat etwas völlig Selbstverständliches. Vielleicht fällt er deshalb kaum jemandem wirklich auf. Viele meiner Groninger Bekannten erinnern sich nicht an ihn, wenn ich sie nach dem Emmaplein frage.

Foto: PG

Der Jüngling sitzt auf einem Felsblock, das rechte Bein angezogen, die große rechte Hand ruht auf dem Knie. Das linke Bein ist etwas ausgestellt, der linke Ellenbogen liegt lässig auf dem Oberschenkel. Er hat einen wachen Blick. Die Beinhaltung ist anders als beim antiken Merkur, und auch der gerade Blick findet sich dort nicht. Die Frisur ist ein lockerer Haarschopf, zeitloses 20. Jahrhundert. Stehend wäre er etwa 180cm groß. Für seinen schlanken Körperbau hat er ziemlich breite Hände und Füße. Die Rückenansicht ähnelt sehr dem römischen Merkur. Das Rückgrat ist mehr akzentuiert. Der Jüngling ist schlanker und größer als das antike Vorbild. Er ähnelt auch heute noch einem richtigen Groninger Jungen von ca. 16 Jahren.

„Zittende jongeling“, Rückansicht (Foto: PG)


Jeltsema hat hier in Anlehnung an den antiken Merkur ein eigenes Kunstwerk geschaffen und zwar in dem Stil und in der Wirkungsart vom Höhepunkt der griechischen Skulptur, die er als unüberholbaren Höhepunkt der Kunst an sich empfand. Modernistische Tendenzen, die in seiner Jugend aufkamen, hat er ignoriert, und er hat darunter gelitten, daß die Welt sich in seinen besten Jahren einer völlig anderen Art von Kunst zuwandte. Als er nicht mehr „in“ war, zog er sich zurück. Er konnte es sich leisten.

Wohl war es ihm im Alter (1960 war er 81 und krank) ein Bedürfnis, zwei seiner schönsten Werke der Stadt Groningen zu schenken, dem Ort, an dem seine Laufbahn als Künstler, (bis 1906 offiziell noch als Künstlerin aber körperlich doch ein Mann), begonnen hatte. Da liegt die Vermutung nahe, dass er diese Skulpturen sowohl als ästhetische als auch als identitätsausstrahlende Botschaft und als Vermächtnis an die Stadt seiner Jugend verstanden hat. Der Jüngling wäre also ein Selbstbildnis im idealen und offensiven Sinn.

Und er schenkte sich als Mann und Frau: bei der anderen Skulptur handelt es sich ja um eine nackte Bacchantin in Marmor. Auf sie komme ich noch zurück.


Donnerstag, 10. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (7): Der „Sitzende Merkur“ aus Herkulaneum (2)

Hermes/Merkur ist der vielseitigste Gott der griechisch/römischen Antike. Am bekanntesten ist er als Gott des Handels. Aber er ist auch der Gott des Gehens und des Reisens, der Begleiter der Toten, der Gott der Diebe, der Götterbote. Immer ist er aktiv und in Bewegung. Zumeist zeigen ihn Kunstwerke mit mehreren seiner Insignien: dem geflügelten Helm, dem Caduceus (ein Stab, mit dem er Menschen in Schlaf versetzen kann), der Leier, den geflügelten Sandalen und oft auch dem Geldbeutel.

Auffällig am „Sitzenden Hermes“ ist, daß er sehr jung ist (Carol Mattusch schätzt ihn in ihrem Buch über die Villa dei papiri auf 12 Jahre) und dass er sitzt, sich also im Zustand der Ruhe befindet, für Merkur höchst ungewöhnlich. Als Merkur erkennbar ist er nur an den geflügelten Sandalen. Der Caduceus ist abgebrochen und verschwunden. Er streckt das rechte Bein aus und scheint ein wenig ermüdet zu sein oder Schmerzen am Fuß zu haben. Ein Moment der Besinnung für den sonst so Rastlosen.

Winckelmann vermutete, daß er von „auswärts“ gekommen sein muss, als eine der Tausenden Statuen, die die Römer aus Griechenland mitgenommen haben. Seine Machart verweist auf das 4. Jahrhundert vor Christus, eventuell die Schule des Lysippos.

Das Besondere an den Skulpturen jenes Jahrhunderts ist ihre Natürlichkeit und ihre Einbettung in Zeit und Raum. Die Figur ist lebendig in einem bestimmten Augenblick abgebildet und zu 360 Grad in den umgebenden Raum eingefügt: Man kann um sie herumgehen, und jede Ansicht ist gleichwertig. Der Betrachter gerät in einen Austausch mit der Figur. Diese Phase gilt als Höhepunkt der griechischen Bildhauerei.

Fré Jeltsema muss von ihm überwältigt gewesen sein. Dass er ihn in Italien gesehen hat, steht außer Frage. Wir wissen nur nicht, wann. Möglicherweise schon 1906 während seines ersten Aufenthalts in Florenz als Mann. Er war in der Zeit auch in Rom. Und/oder er ist nach 1906 mit seiner Mäzenin auf einer ihrer ausgedehnten gemeinsamen Kunstreisen nach Neapel gefahren. Das erscheint mir sowieso sehr wahrscheinlich. Natürlich muss er sich als Bildhauer auch für die handwerklichen Aspekte interessiert und über die Herstellung lebensgroßer Bronzen informiert haben, auch in Neapel, an der Quelle so vieler Skulpturen. Europaweit bekannt war dort die technisch führende Gießerei von Giorgio Sommer. Wie sonst hätte Jeltsema für sich selbst, ohne Auftrag, in Den Haag seinen „Sitzenden Jüngling“ erschaffen und gießen lassen können?

Für uns Gegenwärtige gibt es einen Ort, an dem sich nachempfinden lässt, wie der „Sitzende Merkur“ im Gartenhof der Villa dei papiri platziert war und gewirkt hat: die Getty Villa in Pacific Palisades (Los Angeles). Getty hat diese Villa weitgehend nach dem architektonischen Vorbild aus Herculaneum bauen lassen:

Villa Getty. Im Vordergrund der Sitzende Merkur in Rückenansicht




Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (6): Der „Sitzende Merkur“ aus Herculaneum (1)

Die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum waren die kulturelle Sensation des 18. Jahrhunderts in ganz Europa. Einen Höhepunkt bildete die teilweise Freilegung der riesigen Villa dei papiri in Herculaneum ab 1750. Die Villa erhielt ihren Namen von der Bibliothek mit 2000 verkohlten Papyrusrollen, (die sich erst seit letztem Jahr mi Hilfe künstlicher Intelligenz teilweise entziffern lassen).

Aber es wurden auch Dutzende Skulpturen aus Marmor und Bronze gefunden. Die schönste von ihnen ist der 1758 entdeckte lebensgroße „Sitzende Merkur“. Das schreibt jedenfalls der heutige Ausstellungsfüher des Archäologischen Museums in Neapel, wo die Skulptur jetzt steht: „the most celebrated bronze of antiquity“.



Die Funde zogen schnell Tausende Besucher aus ganz Europa an. Die meisten blieben nur kurz, Mozart war da, Goethe war da. Der erste sachkundige deutsche Besucher, der Archäologe Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), blieb 1762 für zwei Monate und lieferte eine ausführliche Beschreibung der Entdeckungen in der Villa dei papiri. Auch er war begeistert vom „Sitzenden Merkur“:

„Der Mercurius aber, welcher unter allen Statuen zuletzt gefunden worden, ist die schönste unter allen: er sitzt, und das besondere sind dessen Flügel, welche an den Füßen gebunden sind, so daß der Heft von den Riemen, in Gestalt einer platten Rose, unter der Fußsohle steht, anzuzeigen, daß dieser Gott nicht zum Gehen, sondern zum Fliegen gemacht sey.“

(Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, (1762) Mainz 1997, p. 89)

Der Verschluß der Sandale unterm Fuß


Er wiederholte dieses Urteil in seinem Hauptwerk „Geschichte der Kunst des Altertums“ (Dresden 1764):

„Die vorzüglichste [Statue] ist ein sitzender Mercurius, welcher das linke Bein zurückgesetzt hat und sich mit der rechten Hand stützt, mit vorwärts gekrümmtem Leibe.(…). Von dem Caduceo [magischer Stab] ist in der linken Hand nur ein Ende geblieben; das übrige hat sich nicht gefunden, woraus zu schließen ist, daß diese Statue auswärts hergebracht sei, wo dieses Stück muß verloren gegangen sein: denn da dieser Mercurius, den Kopf ausgenommen, ohne alle Beschädigung gefunden worden, hätte sich auch dessen Stab finden müssen.“

Das stimmt zwar nicht ganz: Der Merkur war, wie viele andere Skulpturen auch, sehr wohl in viele Teile zerbrochen gewesen. Die Bronzegießerei in Neapel hatte alle Hände voll zu tun, die Beschädigungen zu reparieren. Das Gewerbe boomte, und im nächsten Schritt ging man zur Herstellung von hunderten Kopien der Funde über, insbesondere vom „Sitzenden Merkur“, der in allen Größen hergestellt und zum Lieblingsandenken von Tausenden Italienfahrern wurde. Die teure lebensgroße Kopie zierte bald die Museen der Hauptstädte Europas.


Samstag, 22. März 2025

Der Bahn

 


Meine hoch geschätzte niederländische Qualitäts-Tageszeitung NRC berichtet heute sachkundig über die Misere der deutschen Bahn (ach ja, oh je, die Bahn!) früher der Stolz des Landes, jetzt eine Quelle von Spott und Frustration.

Gute Deutschkenntnisse waren früher der Stolz der Niederlande. Jetzt sind sie eine Quelle von Spott und Frustration (ach ja, oh je, der Bahn!).

Freitag, 14. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (5): Mann und Weib und Weib und Mann…

Inzwischen bin ich nach dem Hinweis eines Ex-Kollegen (danke, Stefan!) beim Kunstpunt Groningen gewesen https://www.kunstpuntgroningen.nl : die haben ein Archiv mit Mappen zu Groninger Künstlern. Der Kunstpunt befindet sich im Gebäude des Kulturzentrums „De Oosterpoort“, und in der Tat: es gibt eine Mappe zu Fré Jeltsema. Sie ist nicht sehr umfangreich, enthält aber einige Dokumente der Gemeinde Groningen zur Schenkung und Aufstellung der beiden Skulpturen im Jahr 1960.

Außerdem fand ich dort einen Artikel von Henriette Kindt aus „De Agenda“ 1989/90, in der sie auf den „Zittende jongeling“ eingeht. Und immerhin: sie ist bis jetzt die einzige, die wie ich einen Bezug zum „Ruhenden Hermes“ aus Herkulaneum herstellt, allerdings ohne weitere Vertiefung.

Interessant ist im übrigen, dass wie beim Hermes, so auch beim Jüngling außer dem lebensgroßen Original kleine Kopien des Kunstwerks angefertigt wurden. In Italien gab und gibt es davon Tausende, für all die Kunsttouristen. Wie viele Kopien Jeltsema von seinem Werk hergestellt und zum Verkauf angeboten hat, ist mir nicht bekannt, und Kunsttouristen, die nach Groningen kommen, müssen sich mit dem Peerd van Ome Loeks begnügen.

In dem verdienstvollen Online-Museum www.mesdagvancalcar.nl finden wir im „Jeltsema-Saal“ drei Fotos einer solchen Kopie (von drei Seiten her betrachtet). Die Kopie ist 23 cm groß und in Privatbesitz:

 

Jeltsema, Zittende jongeling

Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich sah, dass Jeltsema auch eine weibliche Version des Jünglings gemacht hat: Sie ist 17 cm groß und trägt den bedenkenswerten Titel „In afwachting“:

 

Jeltsema, In afwachting

Dies alles weist darauf hin, von welch großer Bedeutung diese Skulpturen für Jeltsema waren, nicht nur im künstlerischen Sinn und gerichtet auf die antiken Vorbilder, sondern auch in Bezug auf seine persönliche Identität als Mann und Frau, als Hermaphrodit.

Mann und Frau: er ist beides und hat beides gelebt. Und: „Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an“ (Mozart, Die Zauberflöte).


Samstag, 8. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (4): Hermes und Aphrodite

Der Zufall will es, dass heute der Weltfrauentag ist und meine auf Papier gedruckte Tageszeitung (Nieuw Rotterdams Courant) mir heute Morgen um 8 Uhr eine Ausgabe mit manchen Aspekten zu Mann und Frau und Frau und Mann in die Hände gab.

Das spielt ja in meinen Betrachtungen zum „Sitzenden Jüngling“ von Frederika/Frederik Engelina/Engel Jeltsema eine große Rolle. Nach seiner juristischen und lebensalltäglichen Mannwerdung ließ sie/er sich übrigens „Fré“ nennen, um beide geschlechtliche Identitäten problemlos in einem Rufnamen zu vereinigen. Ich komme hierauf noch zurück. Es hat auch viel mit seinem dem Hermes nachempfundenen Jüngling zu tun.

Der Leitartikel der NRC heute auf Seite 2 unter dem Titel „Mentale hermafrodiet“ stammt von Floor Rusman, einer 39jährigen Redakteurin. Sie beschreibt darin ihre Sicht auf ihre Identität als Frau in einer Welt, in der sich, auch in den Niederlanden, wieder mehr und mehr eine „Manosphere“  auf teils brutale Art Raum verschafft (auch dem Thema widmet sich die Zeitung auf Seite 10-11).

Floor Rusman beendet ihren Artikel mit dem Statement:

„Wenn ich für irgendetwas demonstrieren will, dann ist es für die Freiheit von Frauen und Männern, selbst zu bestimmen, wie faszinierend sie ihre Geschlechtlichkeit finden. Dieser Freiheit sollte sich jede/jeder (für sich und andere) verpflichtet fühlen.“ (Übersetzung P.G.)

Vorher hat die Autorin noch auf die amerikanische Essayistin Becca Rothfeld verwiesen, die einmal geäußert hat, sich als „mentaler Hermaphrodit“ zu fühlen. Becca Rothfelds Buch „All Things Are Too Small. Essays in Praise of Excess“ zählte die New York Times zu den 100 wichtigsten Büchern des Jahres 2024. Meine Hauptbotschaft in diesem Blogpost ist: Lest dieses Buch. Schon nach einigen Seiten (die ich heruntergekindled habe) weiß ich, dass es viel zu tun hat mit dem, was ich in den folgenden Tagen über Fré Jeltsema zwischen Gestern und Heute  sagen wollte und dass es ein überaus ungewöhnliches Buch einer jungen Frau ist.

Auf das Thema Hermaphroditismus, und zwar sowohl in seiner mythologischen, physiologischen und mentalen Form komme ich natürlich auch zurück.


Hermes und Aphrodite hatten eine Affaire,
aus der ihr Kind, Hermaphroditos, hervorging

Und warum hat Fré, die/der 1960 im Alter von 80 Jahren krank und bettlägrig war, wohl beschlossen, der Stadt Groningen, in der ihre/seine Laufbahn als Bildhauerin/hauer begann, nicht nur einen dem herkulaneischem Merkur nachempfundenen Jüngling, sondern auch eine lebensgroße Marmorstatue einer lebenslustigen „Bacchantin“ zu schenken?


Fré Jeltsema, Bacchantin, Marmorstatue 1910
Groningen, Stadhuis


Diese Statue steht heute im Groninger Rathaus am Eingang zum Saal, wo geheiratet wird.


Donnerstag, 6. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (3): Ruhm und Reichtum

Frederika Engelina Jeltsema aus dem Dorf Uithuizen gewann 1902 mit 23 Jahren den „Prix de Rome“, den höchsten niederländischen Preis für Bildhauerei, mit dem ein vierjähriges Stipendium für jeweils einjährige Auslandsaufenthalte unter Aufsicht erfahrener Künstler verbunden war. Welch ein Höhepunkt für die durch ihre Intersexualität verunsicherte Tochter eines Großbauern aus der tiefsten niederländischen Provinz!

Während dieser faszinierenden Lebensphase, die sie unter anderem nach Paris, Florenz und Rom führte, wurde von Jahr zu Jahr mehr evident, dass sie als Mann in vielen Situationen des Alltags, aber auch als Künstler mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten haben könnte.

Der Preis verschaffte ihr zahlreiche gut bezahlte Aufträge. Sie lernte auf diese Weise die Witwe Geesje Mesdag-van Calcar kennen, die in einer großen Villa in Scheveningen lebte und sich nach dem Tod ihres sehr reichen Mannes und ihres Sohnes einem Leben für die Kunst widmen wollte.

Geesje verstand sich sehr gut mit Frederika und ließ sie in ihrem Haus wohnen. Als Frederika ihr 1906 mitteilte, weiterhin als Mann durchs Leben gehen zu wollen, hat das die Freundschaft eher noch bestärkt. Die dreißig Jahre ältere  Geesje sah in Frederik einen Ersatzsohn und bot ihm alle Möglichkeiten. Sie ließ ihm sofort eine umfangreiche Männergarderobe schneidern, ein Atelier im Garten bauen und machte mit ihm in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ausgedehnte Kunstreisen durch Europa in der Tradition der „Grand Tour“. Bei ihrem Tod 1936 hinterließ sie ihm die Villa und den Großteil ihres Vermögens. Dabei hatte er auch schon von seinem Vater geerbt und konnte bis zum Ende ein finanziell sorgenloses Leben führen.


Frederik Engel Jeltsema, Marmorbüste von Geesje Mesdag-van Calcar,
Groninger Museum


Zu den Stationen und näheren Umständen dieser Reisen von Mutter und Pflegesohn gibt es leider keine Dokumente. Aber wenn man eine Handvoll italienischer Städte nennen soll, die auf jeden Fall zu solch einer Grand Tour gehörten (und für viele immer noch gehören), dann sind es Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pompeji.

Frederik hat also auf jeden Fall in Neapel den lebensgroßen „Ruhenden Hermes“ aus der Villa dei Papiri  gesehen und wahrscheinlich auch eine der vielen zum Verkauf angebotenen kleinen Kopien der Skulptur gekauft und mit nach Hause genommen. Für ihn und sein Verständnis von Bildhauerei muss sie ein absoluter Höhepunkt griechisch-römischer Kunst, von Kunst überhaupt, gewesen sein.

Zehn Jahre nach seiner juristischen Mannwerdung sollte er eine eigene lebensgroße Version dieser Bronzeskulptur erschaffen, den „Zittende jongeling“ (1916), keine Auftragsarbeit, sondern nur für sich selbst und für Geesje, keine Kopie, sondern ein dem sitzenden Hermes nachempfundenes idealisiertes Selbstbildnis des Groninger Künstlers als junger Mann, geschaffen mit den außerordentlichen handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten, die ihm/ihr zu frühem Ruhm verholfen haben. Und mit den finanziellen Mitteln, die Geesje ihm bot.

Den leisen Anklang an James Joyce mit seinem „Portrait of the Artist as a Young Man“, gleichfalls 1916, möge man mir verzeihen. Es gibt da ein paar Parallelen, die mich verblüfft haben.


Mittwoch, 5. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (2): Junge oder Mädchen?

Zum Schöpfer der Skulptur auf dem Emmaplein und zur Skulptur selbst gibt es überraschend wenig Literatur. Die ausführlichste und für jeden direkt zugängliche Information zu Leben und Werk des Bildhauers ist die Biografie von Rob und Winky Vetter auf der Website www.mesdagvancalcar.nl .

Ich benutze diese mit viel Liebe und Aufwand gemachte Website im folgenden, um Ansätze zum Verständnis des nackten Jünglings zu finden. Manches davon muss spekulativ bleiben, da die Archive nicht viel hergeben.

Es beginnt mit einer großen Überraschung: Frederik Engel Jeltsema wurde bei seiner Geburt im Dorf Uithuizen (20 km nördlich von Groningen) am 4. Oktober 1879 als Frederika Engelina Jeltsema ins Geburtenregister eingetragen. Ein Mädchen! Seine Geschlechtsteile erweckten Zweifel für eine genaue Bestimmung. Der Arzt entschied sich für weiblich.

Als Frederika drei Jahre war, wurde den Eltern deutlich, dass es sich doch um einen Jungen handelte. Dennoch erzogen und kleideten sie ihr Kind weiterhin als Mädchen, wohl auch, um Unruhe in dem kleinen calvinistischen Dorf zu vermeiden. Es sollte bis 1906 dauern, dass sich der dann 27jährige Frederik per Gerichtsbeschluss in Groningen zum Mann erklären ließ.


Frederika, 1906

Erstmals als Mann in Florenz, 1906

Das heißt, er ist all seine Schul- und Ausbildungsjahre als Mädchen und Frau aufgetreten: die sechsjährige Grundschule in Uithuizen, die vierjährige Ausbildung als Zeichnerin an der Akademie Minerva in Groningen 1892-1896, die Ausbildung als Zeichenlehrerin in Amsterdam 1897-1898 und das Studium an der Rijksakademie voor Beeldende Kunsten in Amsterdam 1899-1902.

Es übersteigt meine Vorstellungskraft, was das für diesen Mann bedeutet haben muss.

Aber wenn man hört, dass er bei einem Stipendienaufenthalt in Paris von Mitbewohnerinnen, die sein Geheimnis entdeckt hatten, zu Geldzahlungen erpresst wurde und dort von der Polizei eine Anklage wegen öffentlicher Travestie erhielt, lässt sich ein wenig davon ermessen. Leider gibt es keine persönlichen Aufzeichnungen von ihm, die darüber Aufschluss geben. Im Prinzip muss er sich allerdings sowohl als Frau als auch als Mann nicht unbedingt unwohl gefühlt haben. Und er/sie hatte immer  liebe- und verständnisvolle Eltern und Bekannte, die sein Privatleben geschützt haben.

Die Leser und Leserinnen meines Blogs haben recht mit ihrer eventuellen leisen Vermutung, dass ich einen Zusammenhang zwischen dem nackten Jüngling auf dem Emmaplein und dem Identitätsgefühl seines Schöpfers sehe.


Montag, 3. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (1): ein ignoriertes Kunstwerk

Beste Groningers,

Auf dem Emmaplein steht eine schöne Bronzeskulptur: der „Zittende jongeling“, ein lebensgroßer nackter Jüngling, der bei näherer Betrachtung viel von einem echt Groninger Jungen hat.

Im März wird der Emmaplein in der Nähe des Bahnhofs zum schönsten Platz von Groningen. Tausende blaue und weiße Krokusse stehen dicht an dicht und bilden ein faszinierendes Blütenmeer. Viele Passanten bleiben stehen, sind ganz entzückt und machen Fotos.


Foto: Hardscarf 2017

Für den nackten Jüngling scheint sich jedoch kaum einer zu interessieren, und fragt man Groninger Bekannte, dann erinnern sie sich wohl an die Blumen, aber nicht an den Jungen.

Was ist los mit dieser Skulptur? Warum wird sie so übersehen?

Nun sind Skulpturen sowieso nicht das  Ding der Groninger.  Jede Verherrlichung oder Überhöhung einer Person geht ihnen zu weit. Außerdem ist die Figur nackt! Das geht schon mal gar nicht!

Auf dem Schildchen, dass die Gemeinde wie eine Stolperfalle vor der Skulptur angebracht hat, steht:

Frederik Engel Jeltsema, Zittende jongeling, 1960 (1916), www.staatingroningen.nl

Erfreut, mehr über den Jüngling erfahren zu können, rief ich die Seite auf. Die Website ist jedoch nicht mehr aktuell, man wird an eine neue weiterverwiesen: www.kunstpuntgroningen.nl . Dort  finden sich ein paar Fotos und eine kurze Information zur Skulptur und ihrem Schöpfer, außerdem folgende Erläuterung:  „Deze wijze van verbeelden van het mannelijk naakt – met de nadruk op idealisering en kracht – hanteerde men ook in het oude Griekenland.“

Ich habe noch eine Weile herumgegoogled, aber mehr als dieser allgemeine Hinweis auf die griechische Antike findet sich nirgends. Dabei gibt es doch eine griechisch-römische Skulptur von frappanter Ähnlichkeit, den „Ruhenden Hermes“ aus Herculaneum bei Pompeji. Diese lebensgroße Statue wurde 1758 in der Villa dei Papiri ausgegraben. Sie hat im 18. Jahrhundert viel Aufsehen erregt und wurde in zahllosen kleinen Kopien an begeisterte Europäer verkauft, die auf der „Grand Tour“ durch Italien waren. Das Original von 79 vor Christus steht heute im Archäologischen Museum von Neapel:


Ruhender Hermes, 79 v.Chr.



Jeltsema, Zittende jongeling, Foto: Gouwenaar 2009

Ist denn niemandem in Groningen dieser evidente Zusammenhang aufgefallen?

Ich  will probieren, in einigen weiteren Blogposts auf diesen Hintergrund einzugehen.