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Sonntag, 18. Dezember 2016

Steffen Kopetzkys Roman "Risiko". Das komplette Leserblog (1-9)

Und hier ist noch einmal mein Leserblog aus dem letzten Jahr:


Die enthusiastischen Rezensionen zu Steffen Kopetzys historischem Abenteuerroman „Risiko“ (Stuttgart 2015: Klett Cotta, € 24,95) haben mir solchen Appetit auf dieses Buch gemacht, dass ich beschlossen habe, ihm ein Leserblog zu widmen: Während der nächsten ein, zwei Wochen berichte ich portionsweise von meiner Lektüre und den Assoziationen, die sie bei mir bewirkt.


Für diesen ersten Beitrag habe ich gleich auf den ersten Seiten des Romans einen thematischen Aspekt ganz nach meinem Geschmack gefunden: Es gibt eine hochinteressante deutsch-niederländische Konnotation, die einen Platz in meiner Begegnungsgeschichte dieser beiden Länder bekommen würde (wenn ich die denn doch noch mal schreiben sollte).

Die Romanhandlung setzt am 27. Juni 1914 ein, dem Tag vor dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger. Ort der Handlung ist die albanische Hafenstadt Durrës. Das Fürstentum Albanien war  1912 auf der Londoner Botschafterkonferenz geschaffen worden.

Als Fürst wurde ein deutscher Prinz eingesetzt: Wilhelm zu Wied (im Roman auf Seite 16 erwähnt). Er hatte zwar keine Ahnung vom Land, seiner Kultur und Sprache, aber er sollte als neutrale Figur zur Befriedung Albaniens und der Region beitragen.

Wilhelm zu Wied (1876-1945) war übrigens der Sohn einer niederländischen Mutter: der Prinzessin Marie von Nassau. Damit war er auch ein Neffe der niederländischen Königin Wilhelmina. Seine Regentschaft währte nur von März bis Anfang September 1914: Nach Ausbruch des Weltkrieges musste er das Land verlassen (er hat aber nie abgedankt).

Es gab in den Jahren vor 1914 eine intensive Zusammenarbeit der europäischen Mächte zur Aufrechterhaltung des Friedens in europäischen Krisenregionen, insbesondere auf dem Balkan. Weitere auf der Botschafterkonferenz beschlossene Maßnahmen zur Befriedung Albaniens waren der Schutz des fürstlichen Palastes durch das deutsche Kriegsschiff S.M.S. Breslau und der Aufbau einer Polizeitruppe durch niederländische Offiziere. Zu Anfang der Handlung geht ein zehnköpfiges Detachement der Breslau unter Leitung des Leutnants Dönitz an Land (Dönitz? Da war doch was? Ja, tatsächlich: Es handelt sich um den späteren Großadmiral und Hitlers Nachfolger.) Ich zitiere:

„An einem belebten Platz, auf dem heruntergekommene venezianische Palazzi und Bürgerhäuser standen, stießen sie auf drei Angehörige der leuchtend grün uniformierten Polizeitruppe des Stadtkommandanten, die von niederländischen Offizieren geleitet wurde und deren Patrouille nun mit Leutnant Dönitz in ein Gespräch über das Ziel seiner Mannschaft trat“ (Risiko, S. 22f.).

Tja: eine deutsch-niederländische Zusammenarbeit, von der heute kaum ein Niederländer oder Deutscher noch etwas weiß.

Bei der weiteren Entfaltung des Romananfangs hat Steffen Kopetzky einen Umstand außer Acht gelassen, der auch noch eine Konnotation zu meinem niederländischen Wohnort Groningen gehabt hätte. Aber davon morgen mehr. Ich gehe jetzt auf einen Groninger Friedhof und suche das Grab eines niederländischen Nationalhelden, von dem ich bis heute nichts wusste…


Steffen Kopetzkys Roman “Risiko” – Ein Leserblog (2): Exkurs zu einem niederländischen Nationalhelden

Steffen Kopetzky gibt zu Anfang von „Risiko“ ein korrektes Bild der unruhigen Situation in Albanien 1914, konzentriert sich dabei aber auf den Einsatz des deutschen Kreuzers S.M.S. Breslau und seiner Mannschaft als Teil einer internationalen Friedensmission.

Die niederländischen Offiziere, die in Albanien eine Polizeitruppe aufbauen sollten, werden zwei Mal kurz erwähnt (Seite 22 und 45). Dabei lässt Kopetzky die krisenhafte Zuspitzung der Lage insbesondere für die Niederländer (siehe unten) außer Acht. Diese ist für die Romanhandlung im Zusammenhang mit der Hauptfigur, dem deutschen Funker Sebastian Stichnote, auch nicht notwendig: Er erlebt seine eigene lebensbedrohende Krise durch ein Techtelmechtel mit einer Einheimischen. Damit introduziert der Autor die love story, die seinen Roman durchziehen wird.

Zur Lage der Niederländer mache ich hier nur deshalb einen Exkurs, weil es einen Zusammenhang mit meinem Wohnort Groningen gibt.

Also: Zwölf Tage vor dem Landgang des deutschen Detachements in Durrës (Durazzo) war der niederländische Major Lodewijk Thomson dort von einer (verirrten?) Kugel tödlich getroffen worden. Dieser Vorgang führte zu großer Verunsicherung bei den niederländischen Offizieren. Sie verließen dann bereits Ende Juli das Land wieder.

Major Thomson hatte schon zu Lebzeiten bei seinen Untergebenen und in den Niederlanden einen Kultstatus genossen, an dem er durch geschickte Medienarbeit mitgewirkt hatte. Nun war er der erste niederländische Militär, der auf einer internationalen Friedensmission ums Leben gekommen ist. Sein Tod führte zu einer gewaltigen Anteilnahme in seinem Heimatland. Der Leichnam wurde überführt und am 15. Juli 1914 auf dem Groninger Friedhof „Zuiderbegraafplaats“ bestattet. Der Sarg kam per Schiff in Amsterdam an und wurde mit der Bahn nach Groningen gebracht. An der Bahnstrecke standen mehrere Regimenter und tausende Bürger Ehrenspalier, und die Stadt Groningen hatte einen solchen Trauerzug wohl noch nie erlebt. Es gibt Filmaufnahmen davon, die  auf Vimeo zu sehen sind.


Am Hereweg steht ein Denkmal Thomsons am Ort der ehemaligen Rabenhauptkaserne (zwischen den heutigen Wohnhäusern Nr. 109 und 111. Letztes Jahr wurde anlässlich des 100. Todestages eine Kopie in Den Haag aufgestellt.

Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ - Ein Leserblog (3): Die reichhaltigsten 15 Jahre der deutschen Geschichte

In der ersten Hälfte des Romans „Risiko“ erzählt Steffen Kopetzky vom abenteuerlichen, aber auch todbringenden Einsatz des erst deutschen und dann türkischen Kriegsschiffes „Breslau“ im Mittelmeer kurz vor dem ersten Weltkrieg und während der ersten Kriegsmonate; in der zweiten Hälfte geht es um die Geschichte der deutschen Afghanistan-Expedition vom September 1914 bis September 1915, der sogenannten Niedermayer-Hentig-Expedition, die die Afghanen zum Dschihad gegen die Briten bewegen sollte.

Zusammengehalten werden die beiden Teile vor allem durch die (fiktive) Hauptfigur, den Funker Sebastian Stichnote und das (poetologische?) Element des „Großen Spiels“. Mit letzterem, denke ich, steht und fällt die Qualität dieses Romans, der ja nicht umsonst den Namen eines berühmten Kriegsspiels trägt. Aber dazu später.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte man (ich?) einen deutschen Roman, der im ersten Weltkrieg spielt und nicht eindeutig das Antikriegs-Label von Remarques „Im Westen nichts Neues“ bedient, nur mit einem gewissen Stirnrunzeln angefasst. Aber hundert Jahre nach Kriegsbeginn hat sich sowohl durch die vergehende Zeit als auch durch die mit ihr einhergehende Relativierung in der internationalen Geschichtswissenschaft die von meiner Generation angenommene Eindeutigkeit der Schuldfrage in einer Serie von Fragezeichen und neuen Erkenntnissen aufgelöst.

Was bleibt, ist dagegen die Rückprojektion der Ergebnisse aus der Vergangenheitsarbeit am Zweiten Weltkrieg, die jedem Deutschen einen unbefangenen Umgang mit „Helden“ auch vorangegangener Zeiten verbieten sollte. Aber nicht die Thematisierung jener Zeiten und Helden überhaupt! Die ersten 15 Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zum Beispiel sind eine der reichhaltigsten und interessantesten Perioden der deutschen Geschichte hinsichtlich Kultur, Wissenschaft, Technik, Politik und Gesellschaft. Und Steffen Kopetzky schöpft mit vollen Händen aus diesem vernachlässigten Fundus.

Vor ihm hat das auch Christian Kracht getan, dessen Roman „Imperium“ ein Beispiel dafür gibt, wie eine poetologisch sinnvoll eingesetzte Rückprojektion von Geschichtserfahrung aussehen kann, ohne dass ein didaktisch verquastes, langweiliges Gebilde dabei herauskommt.

Ist Steffen Kopetzky mehr als ein Karl May unserer Tage, der uns mit Hilfe einer Handbibliothek in andere Zeiten und Länder versetzt?

Fortsetzung (und irgendwann auch die Antwort) folgt.


Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog (4): Dschihad für Deutschland

1900-1915: Die reichhaltigsten 15 Jahre der deutschen Geschichte... Ich hätte auch die österreichisch-ungarische mit erwähnen sollen. 

Kopetzky bedient sich genüsslich.

Zum Beweis ein Griff in die Kiste. Ich habe hier im Blog nicht die Zeit und den Raum und den Wunsch, das näher auszuarbeiten. Man lese einfach die anklickbaren Artikel zu den folgenden Namen oder eben den ganzen unterhaltsamen Roman!

Im Zusammenhang mit der deutschen Afghanistan-Expedition von 1914/16 tauchen in „Risiko“ ein paar höchst abenteuerliche (aber reale) Gestalten auf. Jeder hatte seine Vorgeschichte und jedem einzelnen von ihnen wird nachgesagt, er wäre ein deutscher Lawrence (von Arabien) gewesen. Die Fotos unten sprechen für sich. Aber die Namen dieser deutschen Abenteurer sind im heißen Sand der Geschichte versunken, und eine schriftstellerische Begabung wie im Falle von T. E. Lawrence („Seven Pillars of Wisdom“) war leider nicht dabei. Im übrigen hilft ein früher Tod auch immer zur Legendenbildung, und das war bei den deutschen Herren nicht der Fall.
 
Max von Oppenheim
Der kreative Geist hinter der Idee, man könne die Muslime der Welt zum Dschihad gegen die Feinde Deutschlands aufstacheln, war der Orientalist Max von Oppenheim (1860-1946). Er überzeugte die Berliner Ministerien von seinem Plan und organisierte die in Kriegszeiten äußerst mühsame Expedition.


Der Leiter der Expedition war zunächst der Diplomat Wilhelm Wassmuss (1880-1931).
 
Wilhelm Wassmuss
Nach Meinungsverschiedenheiten mit Wassmuss übernahm der Offizier und Geograf Oskar von Niedermayer (1885-1948) ab Bagdad die Führung.
 
Oskar von Niedermayer (Mitte)
Auch der österreichisch-tschechische Orientalist Alois Musil (1868-1944) figuriert in diesem Roman.
 
Alois Musil
Steffen Kopetzky holt diese Männer für eine Lesewoche aus dem Staub der Geschichte. Wir erschaudern.


Steffen Kopetzkys „Risiko“ – Ein Leserblog (5): Ein deutscher Bildungsroman

So, ich hab’ ihn durch: alle 730 Seiten; es braucht etwas Lesegeduld, aber der Autor hat so dies und das eingebaut, das die Neugier auf das Ende der Geschichte wach hält, und auch die Liebesgeschichte, auf die ich noch kurz vor Schluss keinen roten Heller mehr gesetzt hätte, bekommt ihr Happy End. Es ist ein großartiger und spannender Abenteuerroman und mehr als das.

Rezensenten haben es schwer mit diesem an Geschichte und Geschichten fast übervollem Buch: Ehe sie auch nur die Hälfte der erwähnenswerten Aspekte abgearbeitet haben, sind die ihnen zustehenden Zeilen oder Sendeminuten gefüllt, und fürs Wesentliche reicht die Zeit dann nicht mehr. Manche scheinen den Roman auch nur zur Hälfte gelesen zu haben.

Die bisher sorgfältigste und reichhaltigste Rezension stammt von Shirin Sojitrawalla im Deutschlandfunk, die man auf der Website lesen oder in zwanzig Minuten anhören kann.

Das gibt mir die Gelegenheit, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren, und das sind die kunstvoll in den Gesamtverlauf der realhistorischen Erzählung eingewobenen fiktiven Elemente des „Großen Spiels“ und die Bildungsgeschichte der Hauptfigur Sebastian Stichnote. Ja: Bei „Risiko“ handelt es sich tatsächlich um einen deutschen Bildungsroman, der den Helden durch Höhen und Tiefen führt, an symbolischen Überhöhungen nicht spart und mit einer kathartischen Überraschung endet.


Wenden wir uns zunächst dem „Großen Spiel” zu (siehe den nächsten Beitrag).


Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog (6): Das Große Spiel

“Auf den ersten Blick wirkte es wie ein buntes Relief aus farbigen Steinen. Er trat einen Schritt in das Zimmer hinein und erkannte, dass es sich um verschiedenfarbig lackierte Bleisoldaten, Reiter und Geschütze handelte. Doch die kleinen Soldaten- und Geschützfiguren waren nicht naturalistisch in einer Art Schlachtenpanorama aufgestellt, sondern abstrakt gruppiert. Links auf dem Tisch sah er einen aufgeklappten, mit grünem Samt ausgeschlagenen Kasten, in dem sechs Würfel lagen, drei rote und drei blaue. Jetzt begriff er, um was es sich handelte: Das musste das legendäre Große Spiel sein” (Risiko, S. 39f.).

Dies ist – bei einem heimlichen Blick ins Zimmer von Leutnant Dönitz - die erste Begegnung des Marinefunkers Sebastian Stichnote mit dem Großen Spiel, das er bald meisterhaft beherrschen sollte. Er verdankte ihm sogar seine vorzeitige Beförderung zum Leutnant. Und am Ende viel, viel mehr.

Der allwissende Erzähler vermittelt uns auf den folgenden Seiten (39-43) Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte des (fiktiven) Spiels: Seine Ursprünge liegen demnach in einem preußisch-militärischen Lehrspiel, mit dem den Offiziersschülern die Clausewitzsche Philosophie des Krieges nahegebracht worden ist. Das legendäre Spiel war, da es auf einem Brett mit 64 Feldern gespielt wurde, beim Militär unter dem Namen “C 64” bekannt ("C" für Clausewitz). Später sei es durch Übernahme von Elementen des Go- und des (wohl auch fiktiven) “Xingbing”-Spiels und durch die Verwendung einer Weltkarte als Spielfeld zu einem Strategiespiel für militärische Führungskreise herangereift.

“C 64”: Steffen Kopetzky erlaubt sich im Roman ab und zu Scherze wie diese Anspielung auf den legendären Spielcomputer Commodore 64. Das Spiel, das hier beschrieben wird, gibt es nicht. Es erinnert zwar an das bekannte Brettspiel “Risiko”, das aber im Buch gar nicht genannt wird. Ich vermute sogar, dass nicht der Autor, sondern der Verlag den Titel “Risiko” gewählt hat, da viele potentielle Leser aus ihrer Jugend das gleichnamige Spiel kennen. Wahrscheinlich hätte der Roman einfach “Das Große Spiel” heißen sollen; das wäre der bessere Titel gewesen.

Wie das Spiel wirklich funktioniert, bleibt – ähnlich wie in Hermann Hesses “Glasperlenspiel” - wohlweislich den ganzen Roman hindurch im Ungewissen. Der Autor suggeriert mit den vagen und ständig erweiterten Regeln eine Nähe des Spielgeschehens zur geopolitischen Realität, ja sogar einen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Er lässt Leutnant Dönitz eine neue Regel erfinden, die es ihm erlaubte, das Spiel “nicht mehr nur dazu benutzen, die Wirklichkeit auf die eine oder andere Weise analytisch nachzuspielen, sondern dazu im Spiel gleichsam eine neue zu erschaffen (S. 253, Kursivierung von mir).

Sebastian Stichnote wird durch seine geniale Beherrschung dieses Strategiespiels zum Star unter den verbündeten deutschen und türkischen Offizieren in Istanbul am Anfang des Weltkriegs. Stichnote trägt dann den Kasten mit den Spielfiguren die ganze entbehrungsreiche Afghanistan-Expedition lang in seinem Gepäck. Am Ende spielt er das Spiel in Kabul mit dem afghanischen Prinzen und Offizieren und führt darin die paschtunischen Stämme zu einem überraschenden Sieg gegen die englischen Kolonialtruppen, der ihnen den Weg bis zur Hafenstadt Karachi eröffnet. In der Nacht danach geht er durch den halbdunklen leeren Saal, wo noch der Spieltisch mit den Figuren steht, und ruft sich alle Schlachten, die er gespielt hat, vor Augen:

“Gerade zuletzt war es ihm erschienen, als seien sie (die Schlachten am Spielbrett, P.G.) realer als die Wirklichkeit, als übersteige das Spiel diese an Wahrheit und Aussagekraft” (S. 704).

Ich war an diesem Punkt immer neugieriger geworden, wie Steffen Kopetzky auf den restlichen zwanzig Seiten sein umfangreiches Erzählnetzwerk zu einem schlüssigen Ende führen würde. Ein erfolgreiches Ergebnis der Expedition, die die Afghanen zum Dschihad gegen England bewegen sollte, stand – getreu der geschichtlichen Wahrheit - nicht in Aussicht. Die Wandlungen, die der Autor seinen Helden Stichnote hat erleben und erleiden lassen, schienen jedoch auf ein ganz besonderes Finale hinzuweisen. Würde es der Tod sein, wie das Ende des Prologs es schon nahegelegt hatte?

Aber der große Spieler Kopetzky beendet seinen realistischen Geschichtsroman mit einem den Leser völlig überraschenden Epilog, der – wie das Große Spiel - die Wirklichkeit an Wahrheit und Aussagekraft übersteigt, und zwar ganz gewaltig! Und verblüffend schlüssig ist.
Ich bringe es irgendwie nicht übers Herz, dieses Ende an dieser Stelle zu verraten. Lest es doch selbst (aber von Anfang an; nicht schummeln!).

P.S.: Da es sich ja um einen Bildungsroman handelt, muss ich in meinem folgenden Beitrag noch etwas zu seinem Helden Sebastian Stichnote sagen.


Sebastian Stichnotes theatralische Sendung - Ein Leserblog zu Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ (7)

Ich habe mal bei Goethe reingeschaut, was es auch noch mit Wilhelm Meister und dem geheimnisvollen Mädchen Mignon auf sich hatte. Seit Migons „Eiertanz“ war die deutsche Sprache um dieses schöne Wort reicher.

Eine Romananalyse ist auch eine Art von Eiertanz. Das zeigt der Tanz der Germanisten um den Wilhelm Meister. Es gibt eine traditionale Interpretationsschule, die den Helden auf dem Weg zu ‚Heilung’ und ‚Glück’ sieht und eine moderne, die behauptet, man könne Meisters Bildungsgeschichte „mit gleichem Recht einen Zerstörungsroman nennen“ (Heinz Schlaffer).

Und ja, es drängt sich geradezu auf: Steffen Kopetzky orientiert sich mit seinem Bildungsroman „Risiko“ am klassischen Vorbild und nimmt dabei die Ambivalenz der Interpreten gleich mit hinein: Heilung und Glück auf der einen Seite, Leid und Tod auf der anderen.

Und was ist Sebastian Stichnotes theatralische Sendung? Er erlernt das geheimnisvolle „Große Spiel” und muss bis ans Ende der Welt gehen, um es dort zu spielen und die Welt zu retten. Von Anfang an ist deutlich, dass er kein aggressiv-nationalistischer deutscher Soldat ist, sondern immer wieder auf Frieden und Ausgleich setzt und gerade dadurch  das “Große Spiel” zu gewinnen weiß.

Auch Kopetzkys Meister begegnet einer Mignon, dem zehnjährigen Paschtunenmädchen Ruia. Sie steht ihm während der tiefsten Höllenqualen seines Opiumentzugs zur Seite und pflegt ihn. Stichnotes Schicksal ist von diesem Leidensweg an eng mit dem ihrem verbunden. Von ihr lernt er Paschtunisch, in ihrer Umgebung wird er mit den Sitten und Gebräuchen der paschtunischen Stämme vertraut. Er lernt das Große Spiel der Paschtunen kennen und beginnt, wie ein Paschtune zu denken und zu fühlen. Dies ermöglicht ihm, sein Großes Spiel auf Seiten der Afghanen zu spielen.

Ruia bezahlt die Begegnung mit ihm letztlich mit ihrem Leben. Der Emir wird auf sie aufmerksam und zwingt sie in seinen Harem, wo die von ihm missbrauchte Zehnjährige stirbt. Diese Schandtat erzeugt in Stichnote den Hass und die Kraft, den Emir zu töten und damit den Lauf der Geschichte zu ändern. Der afghanische Vorname Ruia bedeutet „ein Traum, der irgendwann wahr wird“. Na, also!

Stichnote durchläuft im Roman drei Stadien, in denen sein Leben immer wieder auf Äußerste gefährdet ist. Im ersten Stadium ist er der technisch avancierte Funker, der die moderne, aber gewichtige und belastende Apparatur auf dem Weg nach Afghanistan begleitet. In der zweiten Phase ab Isfahan muss er die Funkanlage zurücklassen und nimmt an ihrer Stelle 230 Brieftauben mit: die Regression in eine frühere Phase der Nachrichtentechnik. In den folgenden Monaten der Wüstenmärsche nehmen seine Gesundheit und seine Kräfte ab. Wegen immer heftigerer Zahnschmerzen beginnt er, Opium zu rauchen. Es schwindet auch die Zahl der Tauben, bis nur noch drei übrig sind. Sie locken den Jagdfalken eines Paschtunen an, wodurch der halbtot in der Wüste Liegende entdeckt und gerettet wird. Durch Ruias Pflege wird er gleichsam paschtunisiert. Er bekommt den Falken als Geschenk und verfüttert die drei letzten Tauben an ihn. Die dritte Phase ist angebrochen.

Stichnote hat mit dem weißen Falken ein fürstliches Attribut bekommen (auch Wilhelm Meister erhält am Ende die ‚Königswürde’). Er wird tätig und versucht den Emir zu töten, was ihm nur durch Eingreifen des Falken gelingt. Damit wird den Afghanen ermöglicht, die Erkenntnisse, die er ihnen im Großen Spiel vermittelt hat, gegen die Engländer in die Realität umzusetzen, die künstlichen Kolonialgrenzen aufzuheben und das Land bis an die Küste zu befreien.

Und eigentlich hat Sebastian das alles nur getan, um von Karachi aus nach London fahren und seine Geliebte wiedersehen zu können!

Dieses dritte Stadium ist die einzige (und sehr kurze) Phase in Kopetzkys Roman, die kontrahistorische Fakten enthält. Der Autor lässt den afghanischen Emir Habibullah Khan drei Jahre früher einem Attentat zum Opfer fallen als in der Realität, um seinen alternativhistorischen Geschichtsentwurf am Ende des Romans umsetzen zu können. England ist dort schon 1916 zum Friedensschluss in Europa bereit. Im “Frieden von Verdun” werden – noch vor dem grossen Sterben, das wir mit diesem Ort verbinden - die Grundlagen für ein einiges Europa gelegt.

Der friedfertige bayerische Soldat Stichnote rettet die Welt. Kehren wir zurück zu seinen Gedanken während des ersten Einsatzes der “Breslau”:

“Wie verzweifelt war Deutschlands Ausgangslage, wenn seine Kriegsschiffe Fischer und Frachter versenken müssten, um eine Chance zu haben? Wenn es wirklich so schlecht stand, dass man nicht Englands Soldaten, sondern seine Bevölkerung angreifen musste, dann war es mit dem Reich so oder so vorbei. Und mit Bayern auch. Das mochte er nicht glauben. Konnte einfach nicht wahr sein (Risiko, S. 146).”

Nein, das kann nicht wahr sein.


Der lesende Held: Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog (8)

Sebastian Stichnote, die Hauptfigur aus „Risiko“, ist der Sohn eines bayerischen Handwerkers. Er hat die Realschule besucht. Als junger Mann schleicht er sich in die Vorlesungen der Technischen Universität in München, zu denen er eigentlich keinen Zugang hat. Er interessiert sich für Physik, für Einsteins revolutionären Erkenntnisse und liest viel. Seine Leseinteressen sind „technisch“ und „abenteuerlich“ (S.31). Und er ist ein „Schnellleser“, der sich eine bestimmte Lesetechnik angeeignet hat.

Steffen Kopetzky gestaltet seinen Helden als modernes Gegenbild zum (Shakespeare lesenden) Wilhelm Meister. Sebastian gehört ins frühe zwanzigste Jahrhundert, das Zeitalter der technisch-wissenschaftlichen Bildung und der Ingenieure. Als Techniker und Soldat trägt er nicht die Taschenuhr des Bürgers, sondern frönt der neuen Mode der viel praktischeren Armbanduhr (seine Schweizer „Movado“ - die sich Bewegende - wird immer wieder genannt.)

Und so liest er auch nur seitlings die Werke der bürgerlichen Bohème; viel mehr interessieren ihn die technischen Utopien seiner Zeit.

Fünf Romane verschlingt und kommentiert er in den Monaten der Handlung 1914/15:

Bernd Kellermann, Der Tunnel
Jules Verne, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Thomas Mann, Tod in Venedig
Waldemar Bonsels, Die Biene Maja
Kurd Laßwitz, Auf zwei Planeten

Insbesondere Laßwitz’ damals weit bekannter utopischer Roman hat es ihm angetan. Liebevoll betrachtet er den ungewöhnlich schön gestalteten Einband des Buches:



„Links von ‚Kurd’ stand ein silberner Halbmond und unter diesem (...) die Erde, er erkannte Eurasien und Afrika zentral auf der silbernen Scheibe, sogar der Schlitz des Mittelmeers war zu sehen mitsamt den Dardanellen. Unter der silbernen, Millionen Kilometer entfernten Erde spannte sich die Milchstraße und darunter, in braun geprägt, der Saturn. Doch rechts von der Erde, gab es, viel kleiner, wie ein neuer Mond um den Heimatplaneten kreisend, eine dritte silberne Scheibe. Das musste, dachte Stichnote, der Mars sein. Gott des Krieges” (S. 183). 


Immer wieder wird Sebastian im Laufe der Handlung dieses Buch in die Hand nehmen und sich sich in den geprägten Buchdeckel mit seinen dreidimensional leuchtenden Planeten- und Sternenwelten versenken. Die Fragen von Krieg und Frieden, Technik und Energie verbinden Sebastians Leben und Denken mit Laßwitz’ Utopie vom irdischen Frieden und solarer Energieerzeugung. Sie werden dann ja auch zum Thema des Großen Spiels, in dem die fossilen Brennstoffe Kohle und Erdöl eine wichtige Rolle spielen.
(Für Interessenten: der Roman ist im Gutenbergprojekt frei zugänglich.)

Der lesende Held: Er steht in der Tradition des deutschen Bildungsromans. Er begegnet uns in Karl Philipp Moritz’ “Anton Reiser” und in Goethes “Wilhelm Meister”. Und auch Steffen Kopetzkys Sebastian Stichnote liest, was zu ihm passt.

Aber, wird der kritische Leser einwenden, der Autor präsentiert uns hier einen Helden von 1915 - nur leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, belastet von der Bürde der Schrecken, die das Zwanzigste noch bereithielt. Was also sollen wir im Jahre 2015 damit anfangen?

Nun, ich glaube dass Kopetzky das bedacht und in seinem Roman eine Reihe von Bojen ausgelegt hat, die den Leser auf den Kurs in unsere eigene Zeit bringen sollen.


Erdöl! – Teil 9 meines Leserblogs zu Kopetzkys „Risiko“

“Noch nie in der Geschichte der Menschheit war so viel Petroleum auf einmal verbrannt worden. Ein Tank nach dem anderen explodierte und entzündete mit seiner Detonation weitere Tanks. (…)
Jedermann an Bord begriff das Unheimliche dieser Feuersbrunst, insbesondere Stichnote, der nach Wachablösung und dem Ende des Beschusses an Deck stand, den gelblich-dunklen Himmel studierte und an das Buch Auf zwei Planeten denken musste, in welchem das Verbrennen fossiler Energieträger als Frevelei und Schandtat bezeichnet wurde“ (Risiko, S. 354).

Es handelt sich hier um die Beschießung der Erdöltanks von Noworossijsk  am 29. Oktober 1914 durch den osmanisch-deutschen Kreuzer “Midilli’ (‘Breslau’) im Schwarzen Meer: Der Leser von Kopetzkys “Risiko” wird an dieser Stelle ein wenig sehr direkt mit der Nase auf die verborgene - wenngleich überdachende - Thematik des Romans gestubst, nämlich die geostrategische Rolle des Erdöls und die damit verbundenen Gefahren für Mensch und Umwelt.


Mit der Thematisierung des Öls verbindet Kopetzky sehr geschickt den Anfang des zwanzigsten mit dem Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und zaubert damit aus seinem historischen Abenteuerroman einen höchst aktuellen Gegenwartsroman. Die Bedeutung von Kohle und Öl für Industrie und Kriegsführung wird uns in der Handlung fortwährend vorgeführt. Zur theoretischen Untermauerung erteilt der Autor noch über 25 Seiten hinweg einer hochinteressanten historischen Nebenfigur das Wort: Alexander Parvus. Dessen Ausführungen gipfeln in einer Prophezeiung:

“Aber nun ist ein neuer Stoff aufgetaucht, der die Kohle in den Schatten stellen wird. (…) Petroleum. Es gibt viel davon in Amerika, aber die größten Quellen liegen in Baku und gehören dem Zaren. Dann sind da die persischen Quellen, die heute schon von größter Bedeutung für das Britische Empire sind. Aber wir wissen, dass Petroleum in Mesopotamien von selbst zu Tage tritt. Die Quellen dort müssen unendlich sein. (…)
Das internationale Kapital (wird) das Osmanische Reich in tausend Stücke reißen und all seine Völker versklaven, um an das Petroleum zu kommen, das auf seinem Gebiet liegt“ (Risiko, S. 340).

Das "Große Spiel": Es ist viel konkreter gemeint, als es erst den Anschein hatte. Es geht nicht um ein abstraktes Strategiespiel, sondern um die Realitäten, die sich – dem Erdöl geschuldet - in den letzten hundert Jahren in dem riesigen Territorium zwischen der Türkei und Afghanistan beziehungsweise auf den fünftausend Kilometern der Niedermayer-Expedition zwischen Konstantinopel und Kabul, entwickelt haben.
Und eine Ironie hat die Geschichte auch: Damals sollte eine deutsche Expertentruppe den Dschihad nach Kabul tragen. Heute kommt der Dschihad aus der Region zu uns.

Nachtrag 2016: Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – die Taschenbuchausgabe ist da

Gut geschriebene und recherchierte historische Abenteuerromane gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur selten. Steffen Kopetzkys großartiger Roman „Risiko“ (2015) über die deutsche Afghanistan-Expedition am Anfang des Ersten Weltkriegs hat deshalb alle Aufmerksamkeit verdient.
Im September ist die Taschenbuchausgabe im Heyne-Verlag erschienen (736 Seiten, € 12,99). Wer noch ein schnelles Weihnachtsgeschenk sucht: das ist mein Tipp!

Ich habe letztes Jahr ein Leserblog in 9 Beiträgen zu diesem Roman geschrieben, das ich heute komplett noch einmal ins Blog setze.

Einen Beitrag hatte ich damals vergessen: Die Hauptquelle zu der
Expedition und damit auch für Kopetzkys Roman ist der Bericht von Oskar von Niedermayer, dem Expeditionsleiter, erschienen 1925 unter dem Titel „Unter der Glutsonne Irans“.  Wer den Roman schon kennt und immer mal wieder gedacht hat, dass der Kopetzky eine blühende Phantasie hat, wird verblüfft feststellen: fast alle schwer zu glaubenden Ereignisse hat es tatsächlich gegeben. Dass Oskar von Niedermayer kein deutscher Lawrence von Arabien geworden ist, liegt am weiteren Verlauf der deutschen Geschichte und an der Tatsache, dass er kein begabter Schriftsteller war.

Steffen Kopetzky ist da deutlich besser. Er nutzt die Quelle gewissenhaft, ohne die Formulierungen Niedermayers zu übernehmen.


Trotzdem ist es spannend, sich das Buch Niedermayers anzusehen. Es steht leicht zugänglich komplett im Netz.

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