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Sonntag, 12. Juni 2016

Ann Cotten, „Verbannt!“ – Ein Lesetagebuch (2): Anns Masterplan



Wenn ich’s germanistisch anpacke, wird’s ausufernd und langweilig. Darum habe ich mich entschlossen, die in Versen geschriebene Einleitung von Ann Cottens „Verbannt!“ einfach in Alltagssprache zusammenzufassen.

So einfach ist das allerdings gar nicht. Die dort verkündete Poetologie ihres Versepos trifft ja auch auf die Einleitung selbst zu, und die Aussage des Textes ist mit den Versen und Reimen und den bei ihnen auftretenden Abweichungen eng verflochten. Aber ich versuch’s mal:

Die Einleitung dient der Einstimmung des Lesers auf den Text und seine Besonderheiten. Die Ich-Erzählerin ist Ann Cotten, das später auftauchende „du“ (Str. 9) ist Bestandteil eines Selbstgesprächs.

Die Autorin will sich der Beziehung zwischen „Herz und Welt“ (Str. 1) und „Sein und Denken“ (Str.22) widmen, das betrifft mehr oder minder „Alles“ (Str. 23). Die Sprache ist das Medium, mit dem dies alles erfasst werden soll.

Ann erinnert sich ihrer Jugend an der Donau in Wien und an die Beschleunigung der Zeit, die sie erfahren hat (Str. 2), an das Frauwerden und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge (Str. 3). Sie will ihr Schwärmen, ihre Hoffnungen, ihre Gedanken zu etwas Neuem, Utopischen verbinden und dafür eine neue „elbische“ Sprache schaffen (Str. 3).

Sie sieht die Reaktion der Kritiker voraus, die sie als „immer schon verwirrte Lyrikerin“ betrachten und ihren in Strophen gebundenen „Revue-Stil“ als Flucht in die Form verurteilen werden (Str. 4).

Ihre Erzählung sieht die Autorin als eine fortschreitende Selbstentblößung, einen „Striptease“, in dem die Verse und Reime die Handlung verbergen und so etwas wie ein Plot mit einem Zielpunkt gar nicht erst zustande kommt (Str.5).

Sexualität gehört in ihre Herz-Welt-Geschichte hinein. Dass sie Sex als eine der stärksten Kräfte und gleichzeitig als ein großes Spiel sieht, zeigt sie in Strophe 6, in der sechs der neun Reime aus dem Wort „Sex“ bestehen. Nichts spreche dagegen, „Dichtung als etwas handzuhaben, was Sex spiegelt, zu Sex ermuntert, zu Gewagterem aufwiegelt“ (Strophe 7). Dichtung ist eine Art Trockenübung für das Leben.

Sie entscheidet sich für ein altmodisches, gebundenes Versmaß, die „Byronstrophe“ (entspricht der Spenserstrophe), ohne die Freiheit aufzugeben, davon auf teils drastische Weise abzuweichen (Str. 8/9).

Kalliope, die Muse des Epos
Was das Genre angeht, lässt sie alle neun Musen zu einem Reigen antreten. Sie brauche sie alle, betont sie, um sich letztendlich doch für Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, zu entscheiden und sich von ihr küssen zu lassen (Str. 10-17).

Ab Strophe 18 spricht die Erzählerin auch als das „Ich“ der kommenden Handlung. Sie stellt sich vor als Mitarbeiterin des „Neuen Fernsehens“, das ab 2020 das „Alte Fernsehen“ abzulösen begonnen hat. Durch das Internet habe sich die Medienwelt radikal verändert, worauf die traditionellen TV-Macher keine Antwort gefunden haben. Ihr und ihren Leuten scheint das gelungen zu sein (Str. 19/20).

In Strophe 21 ist zum ersten Mal von der Insel die Rede, auf die sie verbannt wurde. Sie berichtet vage von Konflikten, in die das „Sein“ sie getrieben habe und will ihre Verbannung zur Vermittlung zwischen „Sein und Denken“ benutzen. Das will sie mit Hilfe des Wortes tun. Zum ersten und einzigen Mal spricht sie hier die „Leserin“ (sic!) an und schwört ihr: „Ich werde alles richtig sagen“ (Str. 22).

Sie beharrt noch einmal auf: „Alles“, und wiederholt es: „das alles“, ist aber unsicher, was sie meint: den „Weltgeist“, die „Atomphysik“? Sie ruft ihre Muse zu Hilfe, aber das alles bleibt im Vagen. Nun gut, es stört sie nicht so, denn „man hört es ja dann im Sange“ (Str. 23).

In der letzten Strophe kündigt sie „die entsetzliche Ballade“ an und macht uns noch extra neugierig: sie wird darin in der Rolle eines „modernen Marquis de Sade in Frauengestalt“ auftreten.

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