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Dienstag, 15. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (11): Korrekturen

Im Laufe meiner Reihe von Blogposts, die am 3. März begonnen hat, habe ich weiterhin versucht, über einzelne Aspekte mehr Aufschluss zu bekommen. Dabei sind ein paar Korrekturen notwendig geworden:

-       Das befreundete Ehepaar Jo und Frits Schreve-Ijzerman hat eine größere Rolle bei der Planung des offiziellen Geschlechtswechsel von Frederika zu Frederik gespielt, als ich in den ersten Beiträgen geschrieben habe. Sie haben für Fré die gesamte Planung vom juristischen Schritt über die praktischen Dinge bis zur Information des Bekanntenkreises übernommen, während er diese Phase großenteils in Italien abwartete. Frits war Arzt und hat Fré die Versicherung gegeben, dass er körperlich ein Mann sei und „ganz gewiss kein Hermaphrodit“. Das wurde in Groningen dann noch von zwei Ärzten offiziell bestätigt. Er war also auch nicht ein Fall, bei dem erst durch eine Operation das eine oder das andere Geschlecht hergestellt wird. Wohl hatte er feminine Merkmale: keinen Bartwuchs, eine hohe Stimme, und er war nicht zeugungsfähig. Es war Jo Schreve-Ijzerman, die für ihn in Amsterdam bei Meyer am Koningsplein die Männergarderobe besorgte: einen Anzug, Hüte, Handschuhe, Regenmantel, Oberhemden, Nachthemden, Jäger-Hosen, Manschetten, 12 Paar Socken und 24 Taschentücher, weiter eine Taschenuhr mit Kette, zwei Paar Herrenschuhe, ein Portemonnaie und andere Kleinigkeiten. Seine Mäzenin Geesje wird wohl alles bezahlt haben. Diese Informationen habe ich aus dem Artikel „Van vrouw naar man. Kunstenares Free Jeltsema wordt in 1906 kunstenaar“ von Frouke Schrijver (Ons Amsterdam gebouwd op verhalen, 1. Juli 2020).

 

-       Dort findet sich auch die Mitteilung, dass Jeltsema schon 1901, während seines letzten Studienjahres, zusammen mit dem Bildhauer Pier Pander nach Rom gereist ist und bei ihm seine Ausbildung fortgesetzt hat. Er wohnte in der Zeit bei der Familie des italienisch-niederländischen Malers Romolo Koelman. Er war also schon früher und länger in Rom, als ich bisher gedacht hatte. In der Biographie auf der Website www.mesdagvancalcar.nl wird dieser Mitteilung kein Glauben geschenkt, weil er ja noch in Amsterdam sein Studium habe vollenden müssen. Das ist sehr formalistisch gesehen und verkennt die liberalen Möglichkeiten eines Kunststudiums in den damaligen Niederlanden. Die zeigen sich auch in den vier Auslandsjahren nach der Zuerkennung des „Prix de Rome“ (1902)


-       Meine dritte Korrektur betrifft die Marmorskulptur einer Bacchantin (1910), die 1960 der Gemeinde Groningen geschenkt wurde. Ich habe in meinem vierten Beitrag vom 8. März ein Foto davon veröffentlich, das aus dem „Jeltsemasaal“ des gerade genannten Webmuseums stammt und wo als Standort das Groninger Rathaus genannt wird. Ich war nun gestern zum ersten Mal da und habe einige Fotos machen können. Die dort stehende Statue ist jedoch nicht identisch mit der aus dem Webmuseum, bei der unter anderem die Statuenstütze an den Beinen in Form eines mit Blättern und Trauben verzierten Baumstrunks fehlt. Dazu mehr in meinem nächsten Beitrag.


Sonntag, 13. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (10): 1940-45, zwei Kunstwerke unter deutscher Besetzung

1940 wurden die Niederlande von deutschen Truppen besetzt. Jeltsemas große Villa in Scheveningen, die er 1936 von seiner Mäzenin Geesje Mesdag-van Kalkar geerbt hatte, wurde von den Deutschen requiriert. Offenbar hatte er vorher noch Zeit, seine Skulpturen in einem Schuppen bei seiner Schwester unterzubringen. Der Jüngling ist jedenfalls nicht in deutsche Hände gefallen.

Jeltsema ging in den Besatzungsjahren nach Haren, einem reichen Vorort von Groningen. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Scheveningen und bewohnte bis zu seinem Tode 1971 sein prachtvolles Haus.

Dem „Sitzenden Merkur“ ist es nicht so gut ergangen. Nachdem Italien 1943 vom Verbündeten zum Feind Deutschlands wurde, begannen die Deutschen ein grauenvolles Besatzungsregime und ermordeten Tausende von Italienern. Außerdem beuteten sie das Land aus und stahlen viele Kunstschätze, darunter auch den Merkur aus Neapel. So weit ich weiß, wurde er nach Berlin gebracht. Wo er dort hinkam, ist mir nicht bekannt.

Nach Kriegsende brachten ihn die Amerikaner noch 1945 nach Neapel zurück. Aber irgendwo zwischen Berlin und München geschah ein Unglück mit der Skulptur: der Kopf brach ab und zersplitterte in viele Scherben. Das klingt sehr schockierend, doch wir wissen von der jahrhundertealten Kunstfertigkeit der Neapolitaner Bronzegießereien, die auch in diesem Fall den Kopf so restaurieren konnten, daß nur einem sehr sachkundigen Betrachter etwas auffällt:


Restauriertes Gesicht mit schwach erkennbaren Bruchlinien
und ergänzter Rotfärbung (Foto: Henry Lie)



Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (9): Das Ensemble auf dem Emmaplein

Außer dem „Sitzenden Jüngling“ auf der östlichen Seite des Emmapleins befinden sich noch zwei moderne Kunstwerke auf dem westlichen Halbkreis: der Video Busstop (2008) von Rem Koolhaas und das Anti-Kernwaffen-Denkmal (1985) von Hugo Hol.

Hugo Hol, Anti-Kernwaffen-Monument 1985)


Zum Busstop von Rem Koolhaas gibt es ein Video, das im Kreis um die Busstation herumfährt und dabei einen guten Gesamteindruck vom Platz und der ihn umgebenden Bebauung vermittelt. Auch unser Jüngling ist ganz kurz zu sehen:




Samstag, 12. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (8): Der Jüngling in seiner Umgebung

Was die Platzierung der Statue betrifft, hat die Gemeinde Groningen 1960 eine glückliche Hand gehabt. Mir ist nicht bekannt, ob hierbei auch ein Wunsch von Fré Jeltsema eine Rolle gespielt hat. Der lebensgroße sitzende Bronzejüngling passt in Gestaltung und Haltung perfekt auf den ihn umgebenden Emmaplein.

Der Emmaplein befindet sich im schönsten Bereich der Innenstadt zwischen zwei breiten Alleen mit Grünstreifen und alten ehrwürdigen Bürgerhäusern und Villen. Der Platz ist kreisrund und mit Ausnahme der schmalen Querwege vollständig mit alten Bäumen, Gras und Blumen bepflanzt. Eine Busspur führt mitten durch den Platz, der restliche Verkehr fährt im Kreis drumherum. Das war übrigens schon in Jeltsemas Jugend so, nur fuhr hier damals die Tram, die den Großen Markt mit dem Bahnhof verband.

Die Haltestelle mit Wartebänken sorgt für ein (nicht sehr betriebiges) Ein- und Aussteigen von Fahrgästen. Der Jüngling sitzt in zehn Metern Entfernung und scheint sich die Vorübergehenden anzuschauen. Außer seiner Nacktheit ist an ihm nichts Auffälliges. Er ist von allen Seiten gleichwertig zu betrachten und fügt sich natürlich auf dem Platz ein. In Frontansicht schaut er dem Betrachter gerade in die Augen. Er hat etwas völlig Selbstverständliches. Vielleicht fällt er deshalb kaum jemandem wirklich auf. Viele meiner Groninger Bekannten erinnern sich nicht an ihn, wenn ich sie nach dem Emmaplein frage.

Foto: PG

Der Jüngling sitzt auf einem Felsblock, das rechte Bein angezogen, die große rechte Hand ruht auf dem Knie. Das linke Bein ist etwas ausgestellt, der linke Ellenbogen liegt lässig auf dem Oberschenkel. Er hat einen wachen Blick. Die Beinhaltung ist anders als beim antiken Merkur, und auch der gerade Blick findet sich dort nicht. Die Frisur ist ein lockerer Haarschopf, zeitloses 20. Jahrhundert. Stehend wäre er etwa 180cm groß. Für seinen schlanken Körperbau hat er ziemlich breite Hände und Füße. Die Rückenansicht ähnelt sehr dem römischen Merkur. Das Rückgrat ist mehr akzentuiert. Der Jüngling ist schlanker und größer als das antike Vorbild. Er ähnelt auch heute noch einem richtigen Groninger Jungen von ca. 16 Jahren.

„Zittende jongeling“, Rückansicht (Foto: PG)


Jeltsema hat hier in Anlehnung an den antiken Merkur ein eigenes Kunstwerk geschaffen und zwar in dem Stil und in der Wirkungsart vom Höhepunkt der griechischen Skulptur, die er als unüberholbaren Höhepunkt der Kunst an sich empfand. Modernistische Tendenzen, die in seiner Jugend aufkamen, hat er ignoriert, und er hat darunter gelitten, daß die Welt sich in seinen besten Jahren einer völlig anderen Art von Kunst zuwandte. Als er nicht mehr „in“ war, zog er sich zurück. Er konnte es sich leisten.

Wohl war es ihm im Alter (1960 war er 81 und krank) ein Bedürfnis, zwei seiner schönsten Werke der Stadt Groningen zu schenken, dem Ort, an dem seine Laufbahn als Künstler, (bis 1906 offiziell noch als Künstlerin aber körperlich doch ein Mann), begonnen hatte. Da liegt die Vermutung nahe, dass er diese Skulpturen sowohl als ästhetische als auch als identitätsausstrahlende Botschaft und als Vermächtnis an die Stadt seiner Jugend verstanden hat. Der Jüngling wäre also ein Selbstbildnis im idealen und offensiven Sinn.

Und er schenkte sich als Mann und Frau: bei der anderen Skulptur handelt es sich ja um eine nackte Bacchantin in Marmor. Auf sie komme ich noch zurück.


Donnerstag, 10. April 2025

Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (7): Der „Sitzende Merkur“ aus Herkulaneum (2)

Hermes/Merkur ist der vielseitigste Gott der griechisch/römischen Antike. Am bekanntesten ist er als Gott des Handels. Aber er ist auch der Gott des Gehens und des Reisens, der Begleiter der Toten, der Gott der Diebe, der Götterbote. Immer ist er aktiv und in Bewegung. Zumeist zeigen ihn Kunstwerke mit mehreren seiner Insignien: dem geflügelten Helm, dem Caduceus (ein Stab, mit dem er Menschen in Schlaf versetzen kann), der Leier, den geflügelten Sandalen und oft auch dem Geldbeutel.

Auffällig am „Sitzenden Hermes“ ist, daß er sehr jung ist (Carol Mattusch schätzt ihn in ihrem Buch über die Villa dei papiri auf 12 Jahre) und dass er sitzt, sich also im Zustand der Ruhe befindet, für Merkur höchst ungewöhnlich. Als Merkur erkennbar ist er nur an den geflügelten Sandalen. Der Caduceus ist abgebrochen und verschwunden. Er streckt das rechte Bein aus und scheint ein wenig ermüdet zu sein oder Schmerzen am Fuß zu haben. Ein Moment der Besinnung für den sonst so Rastlosen.

Winckelmann vermutete, daß er von „auswärts“ gekommen sein muss, als eine der Tausenden Statuen, die die Römer aus Griechenland mitgenommen haben. Seine Machart verweist auf das 4. Jahrhundert vor Christus, eventuell die Schule des Lysippos.

Das Besondere an den Skulpturen jenes Jahrhunderts ist ihre Natürlichkeit und ihre Einbettung in Zeit und Raum. Die Figur ist lebendig in einem bestimmten Augenblick abgebildet und zu 360 Grad in den umgebenden Raum eingefügt: Man kann um sie herumgehen, und jede Ansicht ist gleichwertig. Der Betrachter gerät in einen Austausch mit der Figur. Diese Phase gilt als Höhepunkt der griechischen Bildhauerei.

Fré Jeltsema muss von ihm überwältigt gewesen sein. Dass er ihn in Italien gesehen hat, steht außer Frage. Wir wissen nur nicht, wann. Möglicherweise schon 1906 während seines ersten Aufenthalts in Florenz als Mann. Er war in der Zeit auch in Rom. Und/oder er ist nach 1906 mit seiner Mäzenin auf einer ihrer ausgedehnten gemeinsamen Kunstreisen nach Neapel gefahren. Das erscheint mir sowieso sehr wahrscheinlich. Natürlich muss er sich als Bildhauer auch für die handwerklichen Aspekte interessiert und über die Herstellung lebensgroßer Bronzen informiert haben, auch in Neapel, an der Quelle so vieler Skulpturen. Europaweit bekannt war dort die technisch führende Gießerei von Giorgio Sommer. Wie sonst hätte Jeltsema für sich selbst, ohne Auftrag, in Den Haag seinen „Sitzenden Jüngling“ erschaffen und gießen lassen können?

Für uns Gegenwärtige gibt es einen Ort, an dem sich nachempfinden lässt, wie der „Sitzende Merkur“ im Gartenhof der Villa dei papiri platziert war und gewirkt hat: die Getty Villa in Pacific Palisades (Los Angeles). Getty hat diese Villa weitgehend nach dem architektonischen Vorbild aus Herculaneum bauen lassen:

Villa Getty. Im Vordergrund der Sitzende Merkur in Rückenansicht




Der „Sitzende Jüngling“ von Jeltsema (6): Der „Sitzende Merkur“ aus Herculaneum (1)

Die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum waren die kulturelle Sensation des 18. Jahrhunderts in ganz Europa. Einen Höhepunkt bildete die teilweise Freilegung der riesigen Villa dei papiri in Herculaneum ab 1750. Die Villa erhielt ihren Namen von der Bibliothek mit 2000 verkohlten Papyrusrollen, (die sich erst seit letztem Jahr mi Hilfe künstlicher Intelligenz teilweise entziffern lassen).

Aber es wurden auch Dutzende Skulpturen aus Marmor und Bronze gefunden. Die schönste von ihnen ist der 1758 entdeckte lebensgroße „Sitzende Merkur“. Das schreibt jedenfalls der heutige Ausstellungsfüher des Archäologischen Museums in Neapel, wo die Skulptur jetzt steht: „the most celebrated bronze of antiquity“.



Die Funde zogen schnell Tausende Besucher aus ganz Europa an. Die meisten blieben nur kurz, Mozart war da, Goethe war da. Der erste sachkundige deutsche Besucher, der Archäologe Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), blieb 1762 für zwei Monate und lieferte eine ausführliche Beschreibung der Entdeckungen in der Villa dei papiri. Auch er war begeistert vom „Sitzenden Merkur“:

„Der Mercurius aber, welcher unter allen Statuen zuletzt gefunden worden, ist die schönste unter allen: er sitzt, und das besondere sind dessen Flügel, welche an den Füßen gebunden sind, so daß der Heft von den Riemen, in Gestalt einer platten Rose, unter der Fußsohle steht, anzuzeigen, daß dieser Gott nicht zum Gehen, sondern zum Fliegen gemacht sey.“

(Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, (1762) Mainz 1997, p. 89)

Der Verschluß der Sandale unterm Fuß


Er wiederholte dieses Urteil in seinem Hauptwerk „Geschichte der Kunst des Altertums“ (Dresden 1764):

„Die vorzüglichste [Statue] ist ein sitzender Mercurius, welcher das linke Bein zurückgesetzt hat und sich mit der rechten Hand stützt, mit vorwärts gekrümmtem Leibe.(…). Von dem Caduceo [magischer Stab] ist in der linken Hand nur ein Ende geblieben; das übrige hat sich nicht gefunden, woraus zu schließen ist, daß diese Statue auswärts hergebracht sei, wo dieses Stück muß verloren gegangen sein: denn da dieser Mercurius, den Kopf ausgenommen, ohne alle Beschädigung gefunden worden, hätte sich auch dessen Stab finden müssen.“

Das stimmt zwar nicht ganz: Der Merkur war, wie viele andere Skulpturen auch, sehr wohl in viele Teile zerbrochen gewesen. Die Bronzegießerei in Neapel hatte alle Hände voll zu tun, die Beschädigungen zu reparieren. Das Gewerbe boomte, und im nächsten Schritt ging man zur Herstellung von hunderten Kopien der Funde über, insbesondere vom „Sitzenden Merkur“, der in allen Größen hergestellt und zum Lieblingsandenken von Tausenden Italienfahrern wurde. Die teure lebensgroße Kopie zierte bald die Museen der Hauptstädte Europas.