Cookie

Mittwoch, 21. Januar 2015

Heimerziehung, so richtig deutsch

In Giorgio Scerbanencos Kriminalroman „Der lombardische Kurier“ (ursprünglicher Titel „I ragazzi del massacro“, Mailand 1968) kommt eine italienische Sozialarbeiterin vor, die vier Seiten lang ihr Praktikum in einem Westberliner Wohnheim für Kinder von Straftätern beschreibt. Hier ein Auszug:

Und dann nahm sie mich mit in einen großen Hof, in den jeden Donnerstagnachmittag drei oder vier alte Autos oder Möbelstücke zum Demolieren gebracht wurden. Nun teilten sich die Jungen und Mädchen in Altersgruppen auf. Jedes Kind war mit einer großen Axt und einer Eisenkeule augerüstet, damit mussten sie die Autos, Stühle, Schränke und so weiter systematisch zerstören. Sie konnten jedoch nicht einfach blindwütig draufhauen, denn die verschiedenen Materialien – Gummi und Holz, Eisen und Messing, Stoff und Glas – mussten voneinander getrennt werden. (…) Zwanzig Kinder, die mit riesigen Äxten bewaffnet auf ein Zeichen hin alle gleichzeitig anfingen, auf die Dinge vor ihnen einzudreschen und dadurch ihrer Aggressivität in sinnvoller Form Ausdruck verleihen konnten! (...) Es war eine vorbildliche Einrichtung, Herr Doktor, so richtig deutsch, und ich bin überzeugt, dass keines dieser Kinder den Weg seiner Eltern einschlagen wird.

Giorgio Scerbanenco, Der lombardische Kurier (2004), S. 128f.

Giorgio Scerbanenco (1911-1969)
Der Roman stammt aus dem Jahr 1968. Das beschriebene Konzept der Heimerziehung von Problemkindern müsste also vorher entwickelt worden sein. Vielleicht hat es in der frühen Apo-Zeit in Westberlin tatsächlich so etwas oder etwas Ähnliches zum Lösen von Aggressionsstaus gegeben. Das würde mich mal interessieren. Die „Heimkampagne“ von Apo-Gruppen lief aber erst ab 1969 an.


Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Kinder mit Äxten und Eisenstangen ein Auto in seine verschiedenen Materialien zerlegen können und vermute deshalb, dass es sich bei dieser Mülltrennung um ein ironisch übertreibendes Element des Autors handelt: Heimerziehung, „so richtig deutsch“.

1 Kommentar: