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Mittwoch, 9. Juli 2014

Deutsche und niederländische Identität im Vergleich




Ab und zu setze ich Teile meiner Dissertation in dieses Blog und freue mich, wenn sie auf diese Weise neue Leser findet. So ist das Kapitel "Erfinde einen Deutschen" seit Oktober 2013 mehr als zweihundert Mal angeklickt worden, davon 130 Mal während der letzten zwei Wochen. Offenbar findet es irgendwo in der Deutsch-als-Fremdsprache-Welt gerade Verwendung. Das finde ich schön und macht mich neugierig. Ich vermute, dass das aktuelle Interesse aus den USA kommt.

Heute - aus gegebenem Anlass der wahrscheinlich gewordenen deutsch-niederländischen Fußballbegegnung am nächsten Sonntag - meine vergleichenden Identitätskapitel zur deutschen und niederländischen Nachkriegszeit, auch wenn da der Fußball nur am Rande vorkommt. Zur deutsch-niederländischen Fußballrivalität gibt es inzwischen einen eigenen Wikipedia-Artikel.

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Peter Groenewold, Land in Sicht. Landeskunde als Dialog der Identitäten am Beispiel des deutsch-niederländischen Begegnungsdiskurses, Groningen 1997, S. 123-136

4.3.3.7 Deutschland 1945-1995[1]

    Die Zeit von 1945 bis heute überblickend, fällt es schwer, von einer kohären­ten kollektiven Identität der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen. Zu verschieden sind die sozialen und psychophysischen Welten der Deutschen, die sich in den fast fünfzig Jahren um die drei gesellschaftlichen Knoten­punkte der Nachkriegs­zeit gebildet haben: das Jahr 1949 (Gründung der BRD und DDR), das Jahr 1968 (Studen­tenrevolte) und die Jahre 1989/90 (Vereini­gung der beiden deutschen Staaten).

    Im folgenden sollen der Prozeß der Entkollektivierung der kulturel­len Identität und zugleich auch der Wandel der Inhalte kultureller Grup­peniden­titäten in der Bundesrepublik Deutschland im Überblick dar­gestellt werden.[2]

    Die Alliierten ermöglichten und kontrollierten mit der Politik der "re‑­educati­on" in ihren Besatzungszonen das neue kulturelle Leben in Westdeutschland. Vor allem konservative alte deutsche Männer waren es, die nach 1945 die ersten Erklärungen für das Unfaßbare gaben, das die Deutschen zu verantwor­ten hatten. Die Genera­tion des Ersten Weltkriegs, die noch im Kaiserreich aufge­wachsen war, griff auf ihre traditionellen Kulturmuster zurück und leistete angesichts der morali­schen Katastrophe erste intellektuelle und seelsorgeri­sche Lebenshilfe. Die Untaten des Nationalsozialismus wurden einer allgemei­nen abendlän­di­schen Vermassung und Verpöbelung angelastet. Damit ließen sich die Deutschen und speziell das deutsche Bildungsbürger­tum aus dem Zentrum der Schuldzuweisung entfernen. Der Entnatio­nalisie­rung der Schuld­frage diente die schnelle Propagierung eines vereinig­ten Westeuropa mit den USA als Schutzmacht.

    Der fatale Lauf der Geschichte und der Kulturverfall wurde aus dem allgemeinen Abfall von Gott erklärt, der 1789 mit der Französi­schen Revolution manifest geworden sei. Dagegen wurden "elemen­tare Tu­genden", "tiefe Verehrung des Geistigen und der Schönheit" und "dog­menlose Frömmigkeit" ins Feld geführt. Der Historiker Friedrich Meinecke schlug zu einer kulturpädagogi­schen Umerziehung der deutschen Volksmassen die Einrichtung von "Goethegemein­den" vor, in denen sonntags eine Art kultureller Dienst stattfinden sollte.

    Die Vorstellungen einer "neuen Aristokratie des Geistes" (E. Jünger) knüpften da an, wo schon zwei Generationen vorher die Entwicklun­gen in die falsche Richtung liefen. Auch der Neoliberale Wil­helm Röp­ke, der sich unter keinen Um­stän­den auf die vulgäre Theorie vom "ewi­gen deut­schen Gestapo­agen­ten" einlassen will, kommt über den "Geist der deutschen Spra­che" zu sehr dezi­dierten Aussagen über den "ewi­gen Deutschen": "Es ist das Irratio­nale, das [...] immer wieder in der Ge­schichte der deut­schen Seele durch­bricht [...]. Unablässig scheint der Deutsche in seiner Spra­che bemüht, bis zu den äußersten Regio­nen des noch Sag­baren vor­zus­toßen, und wenn er darüberhi­naus ge­langt, so greift er in die Sphä­re des sprachlich nicht mehr adäquat zu Fassen­den, in der er eine einzig­artige Stellung unter den Völkern ein­nimmt: der Lyrik, der Me­taphy­sik und, als letzter Stufe, der Musik. Hier lie­gen für ihn die höc­hsten Möglichkeiten, aber zugleich auch die schwe­rsten Gefahren" (Röpke 1945: 119).

    Die mittlere und vor allem die jüngere Generation, die militärisch und moralisch geschlagen aus dem Krieg zurückkehrte, schwieg zum gro­ßen Teil, und sie schwieg noch lange Zeit. Die Lehre der deutschen Klassik, die Botschaft des Schönen, Wahren, Guten bedeutete ihr nichts. Die Bruchstücke ihrer subjektiven Identität fanden viele in der Le­benseinstellung des Existenti­alismus. Albert Camus und Jean‑Paul Sartre gehörten in den fünfziger Jahren zu den meistgelese­nen Auto­ren im westdeutschen Bildungsbürgertum.

    Die politischen Mythen der Deutschen, mit denen in der symboli­schen Politik des zweiten Kaisserreich rückwirkend eine 2000jährige deut­sche Geschichte begründet werden sollte, und die im Dritten Reich Hitlers pervertiert worden waren, spielten in der nationalen und kul­turellen Identität der beiden Nachkriegsgenerati­onen keine Rolle mehr. Alles national Pathetische und Monumentale war tabuisiert. Die natio­nalen lieux de mémoire des 19. Jahrhunderts wurden "folklorisiert" (vgl. Dörner 1995), d.h. nahezu vollständig aus der politischen Sphäre her­ausgezogen: "Tourismus statt Nationalismus, so könnte man den Wan­del beschreiben" (Dörner 1996: 256).

    Aber nicht Schuldgefühle, Trauer und Verzweiflung beherrschten den Alltag, sondern eine merkwürdige Ungebrochenheit. Überlebt zu ha­ben, war die erste Erfahrung nach dem Kriege. Die später festge­stellte "Unfähigkeit zu trauern" (Mitscherlich) ist - als moralischer Vorwurf formuliert - die Rückproje­ktion eines späteren Bewu­ßtseins­standes. Das Ausmaß des Verbre­chens an der Menschh­eit, das von Deutschen begangen worden war, wurde auf breiter Basis erst (und nur) in der Generati­on von 1968, der Generation der Kinder der Täter, zu einem Bestandteil der kulturellen Identität. Das ‑ politisch gesehen dumme - Wort von der "Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) konnte nur von einem Vertreter der skepti­schen Generation erfunden werden.

    Auch in der Politik waren es vor allem An­gehörige der beiden ältesten Generatio­nen, die Verantwortung übernahmen. Der erste Bundeskanz­ler, Konrad Adenauer (1949‑1963), war bei seinem Amts­an­tritt 73 Jahre alt. In seinen kulturpolitischen Vorstellungen spielte ein bildungsbe­wußter, autoritärer, christlich‑abendländi­scher Konser­vatismus noch eine Rolle. Unter seinem Wirtschaftsmi­nister und späte­ren Nachfolger als Bundeskanzler (1963‑1966), dem neoliberalen "Vater des Wirt­schaftswunders" Ludwig Erhard, setzte sich mehr und mehr die Ideo­logie der Entideologisierung durch: Kultur und Kirche dienten immer weniger dem Ausdruck von Werten, immer mehr allein dem förmli­chen Ritual, der Repräsentati­on, dem feierlichen Rahmen einer neurei­chen Gesellschaft, deren neue Bibel der "Neckermann‑Ka­talog" war.

    Der Generation des Zweiten Weltkriegs und der "skeptischen Gene­ra­tion" war alles Weltanschauliche verdächtig. Auf der Suche nach Le­benssinn stürzten sie sich in die Arbeit des Wiederaufbaus. Fleiß und Leistung wurden ihre obersten Werte. Kunst hatte ihren Ort weit weg vom Alltag, von Politik, Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit. So wurde das "Wirtschaftswun­der" der erste positive Identifikations­mythos der Westdeutschen nach dem Kriege.

    Die durch das "Wirtschaftswunder" begünstigte Rekonstruktion der Industrie­ges­ellschaft festigte zwar die vertikale Struktur in dem neuen deutschen Staat, aber die durcheinan­dergewirbelten Verhältnisse er­möglichten eine bisher ungekannte Aufwärtsmobi­lität. Durch die mehr als zehn Millionen Vertriebe­nen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und die Flüchtlinge aus der DDR spielten die re­gionalen Identitäten in Westdeuts­chland eine immer geringere Rolle. Das neue landesweite Medium des Fernsehens verstärkte diesen Trend seit den fünfziger Jahren. Unabhängig von sozialer und regiona­ler Herkunft wurden Leistung und Erfolg zum Maßstab gesellschaftli­chen Prestiges.

    Die konsequente Westorientierung der BRD ist die Ursache einer der bedeutend­sten Identitätsrevolutionen in der neueren deutschen Ge­schichte. Die "Verwestli­chung" wird von der westdeutschen Nach­kriegsjugend akzeptiert: Amerika­nischer Jazz und später der Rock 'n Roll, amerikanische Literatur, die an­glosächsische politische Philoso­phie und immer mehr Faktoren des "American way of life" und der amerikanischen Warenkultur wurden Bestandteil des Alltags der Zwanzig‑ und Dreißigjährigen.

    Neben der deutsch‑amerikanischen Achse, die vor allem in der Zu­sammenar­beit in der NATO zum Ausdruck kam, erhielt innerhalb der entstehenden Europäischen Gemeinschaft das Verhältnis der BRD zu Frankreich die höchste Priorität. Der deutsch‑französische Freund­schaftsvertrag von 1963 ermöglichte vielfältige Kontakte und einen intensiven Jugend‑ und Kulturaustausch. Die "Erbfeind­schaft" ist aus dem Bewußtsein der deutschen Nachkriegsgeneratio­nen völlig ver­schwunden.

    Diese Akzeptanz der westlichen Zivilisation und Alltagskultur be­deu­tete nicht, daß die kritischen Intellektuellen der mittleren und jüngeren Generation mit der Politik und dem Leistungsethos der christlich‑libe­ralen Mehrheit einver­standen waren.

    Der "CDU‑Staat" der fünfziger und sechziger Jahre steht für den Wan­del von der "Kulturna­tion" zur "Wirtschaftsnation". Der Begriff "Kul­turnation" tauchte in den folgenden Jahrzehnten in jeder Diskus­sion über die Einheit Deuts­chlands auf und wird in den achtziger Jahren zum nationalen Deutungsmuster der linksliberalen Intelligenz:

"Eine deutsche historische Einheit, eine deutsche nationale Einheit kann es zur Zeit nur auf der Ebene der Kulturnation geben; sie ist heute kaum auf der Ebene einer Staatsnation oder einer politischen Nation vorstellbar. In der Tat existiert eine klar erkennbare, von außen wie von innen leicht zu umreißende Wirklichkeit deutscher Nationalkul­tur, auf die sich die Bun­desbürger, DDR-Deutsche und sogar Österreicher zumindest in bezug auf ihre Schwerpunkte jederzeit einigen können" (Schulze 1987: 189). Die Nationalkultur, die Hagen Schulze hier an­führt, beruht auf einem hochkulturel­len Kulturbegriff, der auf Sprache und kulturelles Erbe abzielt. In diesem Sinne ist die Kulturnation eine idealistische Abstraktion deutscher Intellektueller der Teilungszeit gewesen, die gleichzeitig als Identifikati­onssurrogat und als politisches Instrument zur Überwindung der Teilung gedient hat (vgl. z.B. Brunk­horst 1988 und Korte 1992).

    Die größte politische Wende in der Geschichte der Bundesrepublik war die Regierungszeit des Sozialdemokraten Willy Brandt (1968 ‑ 197­4), "des ersten Kanzlers, der aus der Herrenreitertradition heraus­führ­te" (Heinrich Böll). Brandts Kniefall in Warschau setzte ein bewe­gen­des Zeichen für die "Neue Ostpolitik" und die Einbezie­hung der Moral in politisches Handeln. So konnte Brandt durch seine Außenpo­litik der politische Vater der "vaterlosen Generation" (Mitscherlich) werden.

    Eine Fülle von innerdeutschen und weltweiten Entwicklungen be­wirk­ten eine Kulturrevolution der jüngeren Generation gegen das "Estab­lishment" des erstarrten, autoritären, kleinbürgerlichen west­deutschen Staates. Weitere Faktoren spielten eine Rolle: die "Wohl­standsgenera­tion" verfügte über mehr freie Zeit und finanzielle Mittel als jede an­dere Generation vor ihr. Reisen in die west‑ und südeuro­päischen Länder vergrößerten den geographischen und kulturellen Raum, in dem sich die Identitätsbildung vollziehen konnte.

    Durch die "Außerparlamentarische Opposition" oder kurz "APO", wie sich die antiautoritäre Bewegung bald nannte, wurde ab 1968 eine Enthierarchisierung der sozialen Milieus und eine Pluralisierung der Lebensstile in der BRD eingeleitet. Im Laufe der siebziger Jahre ent­standen neue Gruppenidentitäten unter jungen Leuten, die ‑ zur groß­en Wut der Etablierten ‑ nicht mehr bereit waren, ihre Normen von der vertikalen Leiter der Wirtschaftsnation abzuleiten. Eine ganze Generation distanzierte sich von der Welt ihrer Väter. Das Lebensalter wurde in verstärktem Maße milieubildend: "Traue keinem über drei­ßig", hieß der berühmte Spruch der Alternativkul­tur. Er war nicht als Witz gemeint.

    Die kulturelle Identität der 68er wurde von einer neomarxistischen Politkultur und Revolutionsromantik sowie von der internationalen Popkultur bestimmt. Leben, Sexualität und politische Aktion sollten identisch werden: das war die Botschaft der "Kommunen". Die neuen Subkulturen waren antiautoritär, nonkonformistisch, spontan, aktioni­stisch und mehr und mehr nach innen orientiert. Bestand die zunächst sichtbare Seite ihres Januskopfes in der Politisierung, die in ihren ex­tremen Formen zum Terrorismus der siebziger Jahre führte, so über­wog schon bald das andere Gesicht der "Neuen Subjektivität", einer neuen deutschen Innerlichkeit mit hochabs­traktem Reflexionsbedürf­nis.

    Die "Friedensbewegung" vermochte in Nachfolge der APO 1983 Millio­nen junger Menschen zu den größten politischen Demonstratio­nen in der Geschichte der BRD auf die Straße zu bringen. Im selben Jahr zog die neue ökologische Partei der "Grünen" erstmals in den Bundestag ein. Beide Richtungen reaktivierten ein negatives deutsches Deutungs­muster: eine diffuse existentielle "Angst", die von der Um­weltbewe­gung mit der bedrohten Natur, dem "sterben­den" Wald ver­bunden wurde (vgl. Schama 1995: 120-134).

    In beiden deutschen Staaten hatte in den achtziger Jahren "die deut­sche Frage" Konjunktur. In der BRD wurde eine intensive Identitäts­debatte geführt (vgl. Weidenfeld 1983). Jahrestage historischer Ereig­nisse und Todestage berühmter Personen wurden mit aufwendigen Ausstellungen begangen: Anhand der Themen Preußen, 40 Jahre Kriegs­ende, Friedrich der Große und Bismarck zeigte sich ein neues Inter­esse an deutscher Geschichte. Preußen war in West und Ost lange Zeit kein Thema gewesen. In der Reflexion gemeinsamer Ge­schichte kam es zu einer Annähe­rung west- und ostdeutscher Positionen. Die große Bismarckbiographie des DDR-Histori­kers Ernst Engelberg er­schien - und das war ein Novum - gleichzeitig in beiden deutschen Staaten.

    Neben den neuentdeckten Gemeinsamkeiten gab es neue Elemente der Tren­nung: Die modernen westlichen Gesellschaften haben sich in den achtziger Jahren in einem Modernisierungsschub durch die neuen elektronischen Medien zur "Informationsgesellschaft" entwickelt. Da­mit einher ging eine starke formale Individualiserung in allen Lebens­bereichen. Hierdurch wuchs die Distanz zwischen dem Leben in der BRD und dem Leben in der DDR, das viel weniger von innovativer und individueller Dynamik bestimmt war.

    Im Westen sind traditionelle Definitionen von Lebenssinn durch inter­natio­nalisierte, erlebnisorientierte Lebensstile abgelöst worden. Die Individuen bedienen sich auf dem "Erlebnismarkt" (G. Schulze), um sich selbst zu verwirkli­chen: "Alles kommt als Mittel erlebnisratio­nalen Handelns in Betracht, um solche Zustände zu erreichen: Berufs­tätigkeit und Nichtstun, Sozialkontakte und sozialer Rückzu­g, Fami­liengrün­dung und Singledasein [...], Einkäufe, Musik, Kosmetik, Sport, Fern­sehprogramme, Ausgehen, Urlaube, Konzer­te, Museumsbesuche, Klei­derwech­sel, Essen, Trinken, Zeitschrif­ten, Süßigkeiten, neue Frisu­ren, durch die Stadt gehen usw." (Schulze 1992, 420).

    Die traditionelle Trennung von Hoch‑ und Trivialkultur ist in den beiden jüngeren Generationen aufgehoben. Es gibt ein neues Neben­einander teils angepaßter, teils alternativer Subkulturen, die auf kreati­ve und autonome Selbsterfahrung und Selbstverwirkli­chung ausgerich­tet sind. In ungezählten "New Age"-Varianten bilden junge Leute oft extreme sektiereri­sche Identitäten aus.

    Das heißt nicht, daß die Gegenwart von einer ungewöhnlichen Vielfalt wirklich individueller Sinngebungen bestimmt würde. Es ist eher wie mit den dreißig Fernsehprogrammen: sie sind symptoma­tisch für den Zustand der Gesamtges­ellschaft. Das gilt auch im Hinblick auf den Vergleich mit den höchstens drei Programmen der fünfziger und sech­ziger Jahre: sie boten eine höhere Sinnge­bungsqualität als die dreißig Programme der neunziger Jahre.

    Gab es in der bisherigen Entwicklung der BRD bei den Menschen noch einen kollektiven Bezug auf die Gesamtheit der Gesellschaft, so waren seit den achtziger Jahren überdachende kulturelle Identitäten nur schwach ausgeprägt. Jede Subkultur hat sich in der allgemeinen "Ellenbogenmentalität" ihren Platz erobert.

    Das Ich‑Gefühl der jungen Leute korrespondierte mit einem postna­tio­nalen Wir‑Gefühl. Die Einheitlichkeit in der Vielfalt der Lebensstile hat erstmals eine westeuropäische Generation geschaf­fen. Die Balance zwischen Ich‑Gefühl und Wir‑Gefühl machte die kulturelle Modernität der achtziger Jahre aus (vgl. Treibel 1993). Diese Balance ist jedoch insbes­ondere in der Bundesre­publik sehr verletzlich.

    Was 1989/90 geschah, traf die moderne westdeutsche Gesellschaft völlig unerwartet und quer zu allen laufenden Entwicklungen. Die plötzliche Verei­nigung der beiden deutschen Staaten brachte die in vierzig Jahren gewachse­nen kulturellen und nationalen Identitäten aller Gruppierungen und auch das politische Links-Rechts-Schema völlig dur­cheinander. Zu Helmut Kohls Politik gab es keine wirkliche Alternative. Die westdeutsche Linke hatte damit die größten Probleme. Der großflä­chige Zusammenbruch der kommunisti­schen Staaten dis­kreditierte ihre ideolo­gischen Grundlagen. Aber das Ver­schwinden des zweiten deutschen Staates irritierte auch weite Teile der bürgerlichen Mitte. Die Existenz der DDR hatte auch in der Identität der Westdeut­schen eine Funktion gehabt.

    Niemand in den Niederlanden käme auf die Idee, daß es ein zwei­tes, ein anderes Holland geben könnte, kein Franzose denkt die Idee eines anderen Frankreich neben dem bestehenden. Dies ist der Grund­unter­schied in der nationalen Identität der ersten beiden deutschen Nach­kriegsgenerationen im Vergleich mit anderen europäischen Natio­nen. Die BRD war für sie ein Provisorium.

    Andererseits gehörte für die Generation von 1968 die Spaltung Deutsc­hlands zu ihrer nationalen und kulturellen Identität. Obwohl die Auf­teilung in zwei Staaten von den Alliierten nicht als Bestraf­ung Deutsc­hlands gedacht gewesen war ‑ sie war aus den geostrate­gischen Erwä­gungen der beiden Supermächte entstanden ‑ gab ihr die Genera­tion von 68 bewußt oder unbewußt die Funktion der zwei großen lieux de mémoire: die "Mauer" als Gegengewicht zu "Ausch­witz". Daher rüh­ren die Probleme dieser Generation mit der plötzlichen Vereini­gung. Wo ist jetzt noch ein Gegenge­wicht zum Holocaust? Wo ist jetzt die Uto­pie von einem anderen Deutschland? Die neue Erkenntnis war: Mit dem Deutschland, das wir jetzt haben, werden wir leben müssen; ein anderes gibt es nicht. Damit wurde man nicht ohne weiteres fertig.

Die junge Generation der Erlebnisgesellschaft hat dieses Problem we­niger. Aber sie hatte auch nie die Utopie eines anderen Deuts­chland. Die DDR war für sie ein völlig anderer Staat, mit dem sie nichts zu tun hatte, den sie einfach ablehnte und sonst nicht weiter zur Kenntnis nahm. Sie hat kein Zusammen­gehörigkeitsgefühl mit den anderen Deutschen. Für sie ist die Vereinigung eine lästige Störung in ihrem reichen, modernen, westlichen Leben.

    Für die ehemaligen DDR‑Bürger und plötzlichen Neubürger der Bun­desrepu­blik stellt sich das Problem völlig anders dar. Ihre nationa­le Identität war schwach ausgeprägt. Die DDR‑Identität wurde von ihnen eigentlich erst in dem Moment so richtig entdeckt, wo sie ver­lorenge­gangen war. Die Identifi­kation mit dem neuen vereinten Deutschland­ gelingt noch nicht. Die Ostdeut­schen erfahren von den westdeutschen Nachkriegsgenerationen massive Ablehnung, Arroganz und Besserwis­serei und ziehen sich auf sich selbst zurück. Eine post­natio­nale kultu­relle Identitätsbil­dung liegt für sie in weiter Ferne, da sie eine völlig andere soziokulturelle Bildungsgeschichte durchlaufen haben als ihre westlichen Nachbarn (vgl. Henrich 1993 und Mitscher­lich/Bur­meister 1993).





4.3.3.8 Niederlan­de 1945-1995



    Mit dem "bevrijdingsdag" [Tag der Befreiung], dem 5. Mai 1945, kam die Erlösung von dem Übel, das fortan als Negativfolie für die Formulierung der nieder­ländischen Identität dienen sollte. Festzustel­len ist eine eigenartige, spiegelbildliche und gebroche­ne Identitätsbil­dung sowohl in der Täter­kultur als auch in der Opferkultur. Dutch­ness und Germanness blei­ben nach 1945 in einer negativen Abhän­gig­keit aneinander gebunden, in der die Faktoren der - aus nie­der­ländischer Sicht - unangenehmen aber unausweichlichen Nähe und eines tief ersehnten aber nicht er­reichbaren Abstandes wirksam sind. Und doch entsteht aus dieser Negativkopplung eine merkwürd­ige Produktivität: Der Deutsche wird für den Niederländer zum unheimlichen Doppel­gänger, der ihn an­zieht und abstößt zugleich.

    Die Zahl der Veröffentli­chungen wissenschaft­li­chen, biographi­schen und litera­rischen Charakters, die sich dem Krieg, der Besetzung und der Verfolgung widmen, übersteigt beinahe das Vorstel­lungs­vermö­gen. Die Erklärung hierfür liegt einerseits in der besonders tiefen Ver­let­zung, die die "kleinen" und "neutralen" Niederlande durch die für unvorstellbar gehaltene Vergewaltigung erfahren haben - das Land hat seit vielen Generatio­nen nur Frieden in seinen Grenzen gekannt - an­dererseits in der relativen "Leere" bzw. "Unbesetztheit" des gesamt­nationalen Iden­titätsrahmens, der vor allem durch die formalisti­schen Muster des Personalismus gefüllt war.

    "Krieg" und "Widerstand" wurden im Laufe der Nachkriegsjahr­zehn­te - mit einem Höhepunkt in den achtziger Jahren - zum wich­tig­sten über­da­chenden Element niederländischer Identität. Die "doden­her­denking" [Totengedenken] vom Abend des 4. Mai und der "bevrij­dingsdag", der 5. Mai,  sind neben dem "Koninginnedag" die besonde­ren Momente nationaler Besinnung und Feier.

    Zu unterscheiden ist die sozialpsychologische Innen- und Außen­funk­tion dieses intensiven kollektiven Erinnerns: die nicht-vergehen-wol­lende Trauer und die demonstrative Reinheit der Dutchness (die mit der calvinistischen "schoonheid" korrespon­diert). Hierzu gehörte eine geradezu manichäische Trennung in "Gut" und "Böse", mit einer deut­lichen Zuweisung dieser Polarität an Dutch­ness und Germanness.

Zunächst jedoch überrascht die Ähnlichkeit der identitätsbildenden Faktoren in der direkten Nachkriegszeit: Auch in den Niederlanden waren es die konservativen alten Männer, die nach dem Kriege be­stimmten, wie es weitergehen sollte. Die Generation, die aus den gei­stigen und moralischen Erschütterungen des ersten Weltkriegs heraus in der modernen Massenges­ellschaft und ihrem Abfall von Gott das Grundübel erblickt und dagegen die Bildungsideale des Personalismus gesetzt hatte, äußert sich direkt nach 1945 in einer Flut von program­matischen Schriften. "Het personalisme vormt een cruciale ideologische schakel tussen de jaren dertig en de jaren zestig. [...] Men wil niets minder dan de samenleving radicaal en revolutionair veranderen, men wil een nieuwe cultuur en een nieuwe mens scheppen. Er klinkt niet zelden een bijna eschatologische geestdrift door [Der Perso­nalismus bildet ein ideologisches Binde­glied zwischen den dreißiger Jahren und den sechziger Jahren. [...] Man wollte nicht weniger als eine radikale und revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, man wollte eine neue Kultur und einen neuen Men­schen. Nicht selten macht sich eine bei­nahe eschatologi­sche Leidenschaft bemerkbar] (Ruiter/Smulders 1996: 265).

    Es sind dann auch - und das mag in den Niederlanden nicht über­ra­schen - Theologen, die sich so vehement gegen den Nihilismus der Moderne wenden (z.B. W. Banning, G. van der Leeuw und Ph. Kohn­stamm). Eine gewisse Verwandtschaft finden sie im christlichen Existentialismus Kierkegaards; vom "nihilistischen" Existentialis­mus Sar­tres und Camus distanzieren sie sich jedoch entschieden. Die di­dakti­sche Komponente als volkserzieherische Bewegung findet ihren Aus­druck in der Propagierung der Volkshochschule als säulen- und klas­senüber­greifender Institution, dem pragmati­sch-niederländischen Äq­u­ivalent zu den "Goethegemeinden" Friedrich Meineckes.

    Der Personalismus wollte ein "gemeene maat" [Gemeinmaß]. Er eigne­te sich damit - wie bei den intellektuel­len und politi­schen Eliten der zwanziger und dreißiger Jahre - gut zur Konstruktion einer über­da­chenden Identität, die die Ge­gensätze der in den fünfziger Jahren noch manifesten Versäulung der nie­derländischen Ge­sellschaft auf­fangen konnte. Bei allem erwünschten "Gemein­maß" handelte es sich doch um eine pragma­tisch-pluralis­tische Bewe­gung, die auf Entfaltung der Persönlichkeit in gesellschaftlicher Verant­wor­tung gerich­tet war. Frans Ruiter und Wilbert Smulders sehen den Personalis­mus dann auch gleichzeitig als Wegbereiter für den "postmodernen Pluralis­mus" der sechziger Jahre (vgl. Ruiter/Smul­ders 1996: 267).

    Die hierdurch vorbereitete Entkräftung engstirniger ideologischer Ge­gensätze an der Basis der Säulen führt zum "doorbraak" [Durch­bruch], zur ökumeni­schen "Supersäu­le" und bereitet damit in letzter Instanz die "ontzuiling" [Entsäulung] vor. "Zo ontstond een maat­schap­pijsysteem waarin iedereen ergens bijhoor­de. Het 'erbij horen' als zodanig werd bijna nog belangrijker dan dat­gene waar men bijhoorde. Wilde men geen lid van de kerk worden, dan maar van het Humanis­tisch Verbond, geen lid van de Christelijk Historische Unie, dan des­noods van de Partij van de Arbeid en zo ook omgekeerd. Dit gold ook voor de jonge generatie. ook de jongens en meisjes moesten ergens bij horen. Ze moesten bij een jongemannenver­eniging horen of bij een jongevrouwenver­eniging of bij de padvinderij en als dit allemaal te saai was, dan kon men nog bij de sportvereni­gingen terecht [So ent­stand ein Ge­sellschaftssy­stem, in dem jeder ir­gendwo dazugehörte. Das 'Dazugehören' als solches wurde fast noch wichtiger als die in­haltliche Ausrichtung der gewähl­ten Organisation. Wollte man nicht Mitglied der Kirche werden, dann doch jedenfalls beim Huma­nisti­schen Bund, wer nicht zur Christlich Historischen Union gehören wollte, konnte zur Not zur sozialdemokratischen Partei gehen und umgekehrt. Dies galt auch für die junge Generation. Auch die Jungen und Mädchen mußten irgendwo dazugehören. Sie mußten zu einem Jungmännerve­rein gehören oder zu einem Jun­gemädchen­verein oder zu den Pfadfindern, und wenn das alles zu langweilig war, dann konnte man immer noch Mitglied eines Sport­clubs wer­den] (de Haas 1971: 17). Dieses "Dazu­gehören" ist ein Erfolg der "Gemein­maß"-Bewe­gung. Es hat sich als Identitätsmuster durch die Friktionen der sechzi­ger und siebziger Jahre hin gerettet und erlebte in den acht­ziger und neunziger Jahren im nie­derländischen Bürger­tum eine Neu­auflage. Bei deutschen Beobachtern führte dieses Phänomen zu - für niederländi­sche Ohren unverständlichen und empörenden - Verglei­chen mit der DDR.

    In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre wurden die personalisti­schen Eliten durch die "nozems" [entspricht den westdeutschen "Halb­star­ken" und "Roc­kern"] geschockt. Im "nozemisme" der "nihilisti­schen" Jugend sahen sie ihre schlimmsten Befürch­tu­ngen Wirklichkeit wer­den. Von hier aus setzte über "Provos", "Dolle Minnas" und "Ka­bou­ters" der Prozeß der Entkollektivierung der kulturel­len Identität und zugleich auch der Wandel der Inhalte kultureller Gruppeniden­titäten in den Niederlanden ein.

    Im Laufe der achtziger Jahre dagegen wuchs wieder das Bedürfnis nach mehr sozialen Gemein­schafts­ritualen: "straat- en dorpsfeesten, vrijmark­ten, Sinterklaas, het zingen van het Wilhelmus, Sail, de Vloot­dagen. Allemaal op strikt egalitaire basis. Als Nederlander weet je: doe je er aan mee, dan hoor je erbij. Wie ter plekke aanwezig is en niet meedoet, stelt zich buiten de nationale gemeenschap. De Nederlandse identiteit moet vooral in dit soort rituelen en gewoonten worden ge­zocht" [Straßen- und Dorffeste, Freimärkte, Sankt-Nikolaus-Tag, das Singen des Wilhelmus, Sail, die Flottentage. Alles auf strikt egali­tä­rer Grundlage. Als Niederländer weiß man: wenn man dabei mit­macht, gehört man dazu. Wer vor Ort ist und nicht mitmacht, begibt sich außerhalb der nationalen Gemeinschaft. Die niederländische Iden­tität muß vor allem in dieser Art Rituale und Gewohnheiten gesucht wer­den] (Willem Frijhoff, zitiert in Spiering 1996). Hierzu zählt auch im­mer stärkeres öffentliches Flagge-Zeigen, und zwar sowohl der Natio­nalfarben als auch der "Oranje"-Flagge, der Farbe des niederlän­dischen Königshauses, und die emotionale Aufwertung der National­hymne, ohne daß dies im geringsten die Zunahme eines Staatsnationa­lismus bzw. einer monarchisti­schen Gesinnung zu bedeuten hätte. Es sind die vielen kleinen Spielarten des "banal nationa­lism" (Billig), durch die sich das niederländische Wir-Gefühl verstärkt akzentuiert.

    Sport spielt darin eine große Rolle. Der niederländische Thronfol­ger, Prinz Wilhelm Alexander, hat die Verbindung von "Oranje" und "Sport" während der Olympischen Spiele von 1996 durch seine öf­fent­lichen Umarmungen mit den niederländischen Medaillengewin­nern adäquat aufgegriffen und damit - vielleicht unbewußt - eine Brücke zwischen alten und neuen Identitätsmustern hergestellt. Am stärksten wirkt im neuen Identitätsfeld "Sport" in den achtziger Jahren jedoch eine andere Brücke: Im Bereich internationaler Fußball­wett­kämpfe ergibt sich die Möglich­keit der Revanche, des nachträgli­chen Siegs von David über Goliath. Der Sieg des "guten" Niederländers über die "bö­sen" Deutschen wird möglich.­

    Die neunziger Jahre bringen eine neue Konstellation. Das Stichwort "Europa '92" bewirkt - mit der Ungewißheit der Rolle der kleinen Na­tionen in der zukünftigen Europäischen Union - in den Niederlan­den eine ungewöhnlich intensive und noch stets anhaltende Identitätsde­batte (vgl. de Bruin­/Teunissen 1995 und Koch/Scheffer 1996). Viel­leicht ist es typisch für die Verunsicherung, die sich hierin äußert, daß zur selben Zeit erst­mals auch Zweifel am Auftreten des niederländi­schen Militärs in der Endphase der Kolonialherrschaft in Indonesien auf breiterer gesell­schaft­licher Basis Wurzeln fassen und nicht sofort wie­der von offiziel­ler Seite entkräftet werden.

    Der wirksamste Erosionsfaktor jedoch entsteht durch einen ganz ande­ren, historisch gegenwärtigen Faktor: das unrühmliche Verhalten des niederländi­schen UNO-Batallions "Dutchbat" im bosnischen Sre­brenica am 11. Juli 1995. Der quasi unter den Augen niederländischer Schutz­truppen sich abspielende Völkermord trifft ins Innerste der niederlän­dischen (Nachkriegs-)Identität: "Neder­land is niet meer het­zelfde" [Die Niederlande sind nicht mehr was sie waren] (Beunders 1996). Der Historiker Willem Beunders spricht ein Jahr später vom "verloren vaderland" und vom "afscheid van typisch Hol­landse illu­sies" [Ab­schied von typisch holländischen Illusionen]: "Het is een afscheid. Ons gevoel van nationale superio­riteit was op niets anders gebaseerd dan op het geluk van onze kleinheid. Wie groot is begaat grote misdaden, wie klein is kleine" [Es ist ein Ab­schied. Unser Gefühl nationaler Superiorität war auf nichts ande­rem gegründet als auf dem Glück unserer Kleinheit. Wer groß ist, begeht große Verbre­chen, wer klein ist, kleine] (Beunders 1996).





[1]    Eine etwas ausführlichere Version dieses Abschnitts ist in niederländischer Sprache unter dem Titel "De culturele identiteit van de Bondsrepubliek Duitsland" erschie­nen (vgl. Groenewold 1993).


[2]    Ausführliche Darstellungen finden sich bei Glaser 1985 sowie bei Hermand 1986 und 1988.

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