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Samstag, 22. März 2025

Der Bahn

 


Meine hoch geschätzte niederländische Qualitäts-Tageszeitung NRC berichtet heute sachkundig über die Misere der deutschen Bahn (ach ja, oh je, die Bahn!) früher der Stolz des Landes, jetzt eine Quelle von Spott und Frustration.

Gute Deutschkenntnisse waren früher der Stolz der Niederlande. Jetzt sind sie eine Quelle von Spott und Frustration (ach ja, oh je, der Bahn!).

Freitag, 14. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (5): Mann und Weib und Weib und Mann…

Inzwischen bin ich nach dem Hinweis eines Ex-Kollegen (danke, Stefan!) beim Kunstpunt Groningen gewesen https://www.kunstpuntgroningen.nl : die haben ein Archiv mit Mappen zu Groninger Künstlern. Der Kunstpunt befindet sich im Gebäude des Kulturzentrums „De Oosterpoort“, und in der Tat: es gibt eine Mappe zu Fré Jeltsema. Sie ist nicht sehr umfangreich, enthält aber einige Dokumente der Gemeinde Groningen zur Schenkung und Aufstellung der beiden Skulpturen im Jahr 1960.

Außerdem fand ich dort einen Artikel von Henriette Kindt aus „De Agenda“ 1989/90, in der sie auf den „Zittende jongeling“ eingeht. Und immerhin: sie ist bis jetzt die einzige, die wie ich einen Bezug zum „Ruhenden Hermes“ aus Herkulaneum herstellt, allerdings ohne weitere Vertiefung.

Interessant ist im übrigen, dass wie beim Hermes, so auch beim Jüngling außer dem lebensgroßen Original kleine Kopien des Kunstwerks angefertigt wurden. In Italien gab und gibt es davon Tausende, für all die Kunsttouristen. Wie viele Kopien Jeltsema von seinem Werk hergestellt und zum Verkauf angeboten hat, ist mir nicht bekannt, und Kunsttouristen, die nach Groningen kommen, müssen sich mit dem Peerd van Ome Loeks begnügen.

In dem verdienstvollen Online-Museum www.mesdagvancalcar.nl finden wir im „Jeltsema-Saal“ drei Fotos einer solchen Kopie (von drei Seiten her betrachtet). Die Kopie ist 23 cm groß und in Privatbesitz:

 

Jeltsema, Zittende jongeling

Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich sah, dass Jeltsema auch eine weibliche Version des Jünglings gemacht hat: Sie ist 17 cm groß und trägt den bedenkenswerten Titel „In afwachting“:

 

Jeltsema, In afwachting

Dies alles weist darauf hin, von welch großer Bedeutung diese Skulpturen für Jeltsema waren, nicht nur im künstlerischen Sinn und gerichtet auf die antiken Vorbilder, sondern auch in Bezug auf seine persönliche Identität als Mann und Frau, als Hermaphrodit.

Mann und Frau: er ist beides und hat beides gelebt. Und: „Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an“ (Mozart, Die Zauberflöte).


Samstag, 8. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (4): Hermes und Aphrodite

Der Zufall will es, dass heute der Weltfrauentag ist und meine auf Papier gedruckte Tageszeitung (Nieuw Rotterdams Courant) mir heute Morgen um 8 Uhr eine Ausgabe mit manchen Aspekten zu Mann und Frau und Frau und Mann in die Hände gab.

Das spielt ja in meinen Betrachtungen zum „Sitzenden Jüngling“ von Frederika/Frederik Engelina/Engel Jeltsema eine große Rolle. Nach seiner juristischen und lebensalltäglichen Mannwerdung ließ sie/er sich übrigens „Fré“ nennen, um beide geschlechtliche Identitäten problemlos in einem Rufnamen zu vereinigen. Ich komme hierauf noch zurück. Es hat auch viel mit seinem dem Hermes nachempfundenen Jüngling zu tun.

Der Leitartikel der NRC heute auf Seite 2 unter dem Titel „Mentale hermafrodiet“ stammt von Floor Rusman, einer 39jährigen Redakteurin. Sie beschreibt darin ihre Sicht auf ihre Identität als Frau in einer Welt, in der sich, auch in den Niederlanden, wieder mehr und mehr eine „Manosphere“  auf teils brutale Art Raum verschafft (auch dem Thema widmet sich die Zeitung auf Seite 10-11).

Floor Rusman beendet ihren Artikel mit dem Statement:

„Wenn ich für irgendetwas demonstrieren will, dann ist es für die Freiheit von Frauen und Männern, selbst zu bestimmen, wie faszinierend sie ihre Geschlechtlichkeit finden. Dieser Freiheit sollte sich jede/jeder (für sich und andere) verpflichtet fühlen.“ (Übersetzung P.G.)

Vorher hat die Autorin noch auf die amerikanische Essayistin Becca Rothfeld verwiesen, die einmal geäußert hat, sich als „mentaler Hermaphrodit“ zu fühlen. Becca Rothfelds Buch „All Things Are Too Small. Essays in Praise of Excess“ zählte die New York Times zu den 100 wichtigsten Büchern des Jahres 2024. Meine Hauptbotschaft in diesem Blogpost ist: Lest dieses Buch. Schon nach einigen Seiten (die ich heruntergekindled habe) weiß ich, dass es viel zu tun hat mit dem, was ich in den folgenden Tagen über Fré Jeltsema zwischen Gestern und Heute  sagen wollte und dass es ein überaus ungewöhnliches Buch einer jungen Frau ist.

Auf das Thema Hermaphroditismus, und zwar sowohl in seiner mythologischen, physiologischen und mentalen Form komme ich natürlich auch zurück.


Hermes und Aphrodite hatten eine Affaire,
aus der ihr Kind, Hermaphroditos, hervorging

Und warum hat Fré, die/der 1960 im Alter von 80 Jahren krank und bettlägrig war, wohl beschlossen, der Stadt Groningen, in der ihre/seine Laufbahn als Bildhauerin/hauer begann, nicht nur einen dem herkulaneischem Merkur nachempfundenen Jüngling, sondern auch eine lebensgroße Marmorstatue einer lebenslustigen „Bacchantin“ zu schenken?


Fré Jeltsema, Bacchantin, Marmorstatue 1910
Groningen, Stadhuis


Diese Statue steht heute im Groninger Rathaus am Eingang zum Saal, wo geheiratet wird.


Donnerstag, 6. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (3): Ruhm und Reichtum

Frederika Engelina Jeltsema aus dem Dorf Uithuizen gewann 1902 mit 23 Jahren den „Prix de Rome“, den höchsten niederländischen Preis für Bildhauerei, mit dem ein vierjähriges Stipendium für jeweils einjährige Auslandsaufenthalte unter Aufsicht erfahrener Künstler verbunden war. Welch ein Höhepunkt für die durch ihre Intersexualität verunsicherte Tochter eines Großbauern aus der tiefsten niederländischen Provinz!

Während dieser faszinierenden Lebensphase, die sie unter anderem nach Paris, Florenz und Rom führte, wurde von Jahr zu Jahr mehr evident, dass sie als Mann in vielen Situationen des Alltags, aber auch als Künstler mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten haben könnte.

Der Preis verschaffte ihr zahlreiche gut bezahlte Aufträge. Sie lernte auf diese Weise die Witwe Geesje Mesdag-van Calcar kennen, die in einer großen Villa in Scheveningen lebte und sich nach dem Tod ihres sehr reichen Mannes und ihres Sohnes einem Leben für die Kunst widmen wollte.

Geesje verstand sich sehr gut mit Frederika und ließ sie in ihrem Haus wohnen. Als Frederika ihr 1906 mitteilte, weiterhin als Mann durchs Leben gehen zu wollen, hat das die Freundschaft eher noch bestärkt. Die dreißig Jahre ältere  Geesje sah in Frederik einen Ersatzsohn und bot ihm alle Möglichkeiten. Sie ließ ihm sofort eine umfangreiche Männergarderobe schneidern, ein Atelier im Garten bauen und machte mit ihm in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ausgedehnte Kunstreisen durch Europa in der Tradition der „Grand Tour“. Bei ihrem Tod 1936 hinterließ sie ihm die Villa und den Großteil ihres Vermögens. Dabei hatte er auch schon von seinem Vater geerbt und konnte bis zum Ende ein finanziell sorgenloses Leben führen.


Frederik Engel Jeltsema, Marmorbüste von Geesje Mesdag-van Calcar,
Groninger Museum


Zu den Stationen und näheren Umständen dieser Reisen von Mutter und Pflegesohn gibt es leider keine Dokumente. Aber wenn man eine Handvoll italienischer Städte nennen soll, die auf jeden Fall zu solch einer Grand Tour gehörten (und für viele immer noch gehören), dann sind es Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pompeji.

Frederik hat also auf jeden Fall in Neapel den lebensgroßen „Ruhenden Hermes“ aus der Villa dei Papiri  gesehen und wahrscheinlich auch eine der vielen zum Verkauf angebotenen kleinen Kopien der Skulptur gekauft und mit nach Hause genommen. Für ihn und sein Verständnis von Bildhauerei muss sie ein absoluter Höhepunkt griechisch-römischer Kunst, von Kunst überhaupt, gewesen sein.

Zehn Jahre nach seiner juristischen Mannwerdung sollte er eine eigene lebensgroße Version dieser Bronzeskulptur erschaffen, den „Zittende jongeling“ (1916), keine Auftragsarbeit, sondern nur für sich selbst und für Geesje, keine Kopie, sondern ein dem sitzenden Hermes nachempfundenes idealisiertes Selbstbildnis des Groninger Künstlers als junger Mann, geschaffen mit den außerordentlichen handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten, die ihm/ihr zu frühem Ruhm verholfen haben. Und mit den finanziellen Mitteln, die Geesje ihm bot.

Den leisen Anklang an James Joyce mit seinem „Portrait of the Artist as a Young Man“, gleichfalls 1916, möge man mir verzeihen. Es gibt da ein paar Parallelen, die mich verblüfft haben.


Mittwoch, 5. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (2): Junge oder Mädchen?

Zum Schöpfer der Skulptur auf dem Emmaplein und zur Skulptur selbst gibt es überraschend wenig Literatur. Die ausführlichste und für jeden direkt zugängliche Information zu Leben und Werk des Bildhauers ist die Biografie von Rob und Winky Vetter auf der Website www.mesdagvancalcar.nl .

Ich benutze diese mit viel Liebe und Aufwand gemachte Website im folgenden, um Ansätze zum Verständnis des nackten Jünglings zu finden. Manches davon muss spekulativ bleiben, da die Archive nicht viel hergeben.

Es beginnt mit einer großen Überraschung: Frederik Engel Jeltsema wurde bei seiner Geburt im Dorf Uithuizen (20 km nördlich von Groningen) am 4. Oktober 1879 als Frederika Engelina Jeltsema ins Geburtenregister eingetragen. Ein Mädchen! Seine Geschlechtsteile erweckten Zweifel für eine genaue Bestimmung. Der Arzt entschied sich für weiblich.

Als Frederika drei Jahre war, wurde den Eltern deutlich, dass es sich doch um einen Jungen handelte. Dennoch erzogen und kleideten sie ihr Kind weiterhin als Mädchen, wohl auch, um Unruhe in dem kleinen calvinistischen Dorf zu vermeiden. Es sollte bis 1906 dauern, dass sich der dann 27jährige Frederik per Gerichtsbeschluss in Groningen zum Mann erklären ließ.


Frederika, 1906

Erstmals als Mann in Florenz, 1906

Das heißt, er ist all seine Schul- und Ausbildungsjahre als Mädchen und Frau aufgetreten: die sechsjährige Grundschule in Uithuizen, die vierjährige Ausbildung als Zeichnerin an der Akademie Minerva in Groningen 1892-1896, die Ausbildung als Zeichenlehrerin in Amsterdam 1897-1898 und das Studium an der Rijksakademie voor Beeldende Kunsten in Amsterdam 1899-1902.

Es übersteigt meine Vorstellungskraft, was das für diesen Mann bedeutet haben muss.

Aber wenn man hört, dass er bei einem Stipendienaufenthalt in Paris von Mitbewohnerinnen, die sein Geheimnis entdeckt hatten, zu Geldzahlungen erpresst wurde und dort von der Polizei eine Anklage wegen öffentlicher Travestie erhielt, lässt sich ein wenig davon ermessen. Leider gibt es keine persönlichen Aufzeichnungen von ihm, die darüber Aufschluss geben. Im Prinzip muss er sich allerdings sowohl als Frau als auch als Mann nicht unbedingt unwohl gefühlt haben. Und er/sie hatte immer  liebe- und verständnisvolle Eltern und Bekannte, die sein Privatleben geschützt haben.

Die Leser und Leserinnen meines Blogs haben recht mit ihrer eventuellen leisen Vermutung, dass ich einen Zusammenhang zwischen dem nackten Jüngling auf dem Emmaplein und dem Identitätsgefühl seines Schöpfers sehe.


Montag, 3. März 2025

Der „Zittende jongeling“ auf dem Emmaplein (1): ein ignoriertes Kunstwerk

Beste Groningers,

Auf dem Emmaplein steht eine schöne Bronzeskulptur: der „Zittende jongeling“, ein lebensgroßer nackter Jüngling, der bei näherer Betrachtung viel von einem echt Groninger Jungen hat.

Im März wird der Emmaplein in der Nähe des Bahnhofs zum schönsten Platz von Groningen. Tausende blaue und weiße Krokusse stehen dicht an dicht und bilden ein faszinierendes Blütenmeer. Viele Passanten bleiben stehen, sind ganz entzückt und machen Fotos.


Foto: Hardscarf 2017

Für den nackten Jüngling scheint sich jedoch kaum einer zu interessieren, und fragt man Groninger Bekannte, dann erinnern sie sich wohl an die Blumen, aber nicht an den Jungen.

Was ist los mit dieser Skulptur? Warum wird sie so übersehen?

Nun sind Skulpturen sowieso nicht das  Ding der Groninger.  Jede Verherrlichung oder Überhöhung einer Person geht ihnen zu weit. Außerdem ist die Figur nackt! Das geht schon mal gar nicht!

Auf dem Schildchen, dass die Gemeinde wie eine Stolperfalle vor der Skulptur angebracht hat, steht:

Frederik Engel Jeltsema, Zittende jongeling, 1960 (1916), www.staatingroningen.nl

Erfreut, mehr über den Jüngling erfahren zu können, rief ich die Seite auf. Die Website ist jedoch nicht mehr aktuell, man wird an eine neue weiterverwiesen: www.kunstpuntgroningen.nl . Dort  finden sich ein paar Fotos und eine kurze Information zur Skulptur und ihrem Schöpfer, außerdem folgende Erläuterung:  „Deze wijze van verbeelden van het mannelijk naakt – met de nadruk op idealisering en kracht – hanteerde men ook in het oude Griekenland.“

Ich habe noch eine Weile herumgegoogled, aber mehr als dieser allgemeine Hinweis auf die griechische Antike findet sich nirgends. Dabei gibt es doch eine griechisch-römische Skulptur von frappanter Ähnlichkeit, den „Ruhenden Hermes“ aus Herculaneum bei Pompeji. Diese lebensgroße Statue wurde 1758 in der Villa dei Papiri ausgegraben. Sie hat im 18. Jahrhundert viel Aufsehen erregt und wurde in zahllosen kleinen Kopien an begeisterte Europäer verkauft, die auf der „Grand Tour“ durch Italien waren. Das Original von 79 vor Christus steht heute im Archäologischen Museum von Neapel:


Ruhender Hermes, 79 v.Chr.



Jeltsema, Zittende jongeling, Foto: Gouwenaar 2009

Ist denn niemandem in Groningen dieser evidente Zusammenhang aufgefallen?

Ich  will probieren, in einigen weiteren Blogposts auf diesen Hintergrund einzugehen.