An erster Stelle muss ich das unglaublich überwältigende Singen und Interagieren der drei Sänger und der grandiosen Annette Dasch zur Musik und zum Plot von Rudi Stephan (1887-1915) nennen. Ein kleines Ensemble, sollte man meinen, aber es geht ja um „die ersten Menschen“, und das waren in der jüdisch-christlichen Mythologie nun mal Adam und Eva und Kain und Abel. Der aus der Vergessenheit hervorgeholte Rudi Stephan hat aus dieser Konstellation viel Verblüffendes und Provokatives herausgeholt.
Aber zunächst noch ein paar Besonderheiten:
Kaum jemandem sagt der Name des deutschen Komponisten Rudi Stephan etwas, der 1914 seine einzige Oper „Die ersten Menschen“ fertigstellte und kurz darauf an der russischen Front erschossen wurde. Kaum jemand kennt diese drastische expressionistische Oper, die ein großes Potential hat, das Publikum voll in ihren Bann zu ziehen.
Hinzu kommt, dass die Amsterdamer Inszenierung unter der Regie von Calixto Bieto in der Corona-Zeit im Juni 2021 zustande gekommen ist. Ein ursprünglich geplantes größeres Projekt der DNO konnte wegen der Restriktionen nicht stattfinden. Der bei Opernpuristen verpönte Regisseur lieferte in kurzer Zeit eine geniale Verschmelzung seiner eindringlichen und provozierenden Konzepte mit den radikalen Beschränkungen des Bühnenlebens durch Verbote und „Hygienekonzepte“. Er machte trotz allem ein Bühnenerlebnis möglich!
Das Orchester durfte nicht im Orchestergraben sitzen und wurde auf ein Amphitheater im hinteren Bühnenbereich gesetzt, von der Bühne getrennt durch einen durchsichtigen Vorhang. Auf der nach vorne erweiterten Bühne steht ein großer mit Südfrüchten und Blumen gefüllter Tisch, an, auf und unter dem die drei Sänger und die eine überragende Sängerin agierten. Nicht in postparadiesischen Vorzeiten, sondern in unserer Gegenwart! Mit Adam als fünfzigjährigem Heimwerker am Apple-Laptop und Eva als sexuell frustrierter Urmutter mit zwei erwachsenen Söhnen. Mehr brauchte diese Oper nicht, gerade das machte sie so geeignet als Ersatz in einer Zeit, in der weltweit hunderte Projekte abgesagt werden mussten, tausende Künstler in Existenznot kamen und Millionen Familien in ihren Wohnungen auf sich selbst zurückgeworfen wurden.
Zu den wenigen Vorstellungen vom Juni 2021 wurden jeweils nur 250 Personen zugelassen. Wie mögen sie sich gefühlt haben, unter der Wucht von Musik, Gesang und Drama, die in diesem „erotischen Mysterium“ (Librettist Otto Borngräber) über sie hinwegrollte?
Der heute auch völlig unbekannte Autor Borngräber hatte 1908 ein Drama mit dem Titel „Die ersten Menschen“ veröffentlich, das 1912 in Bayern wegen seiner erotischen Brisanz verboten wurde.
Ein preisenswerter Beschluss hat die Amsterdamer Oper veranlasst, zu Anfang der Saison 2025 „Die ersten Menschen“ in genau dieser Corona-Inszenierung und Besetzung noch einmal einem größeren Publikum zugänglich zu machen.
Worum geht es nun eigentlich?
Gottes konzeptioneller Fehler bei der Erschaffung des Menschen war sein mangelnder Blick auf die Generation nach Adam und Eva. Für Kain und Abel gab es keine Frau außer ihrer Mutter. In der Bibel gibt es da sozusagen eine Lücke, nach der die Menschheit sich fröhlich fortpflanzt.
Kain jedoch streift die ganze Oper lang durch die Wälder auf der Suche nach einer „wilden Frau“. Aber nix da! Das macht ihm schwer zu schaffen, und dann muss er noch mit ansehen, dass Abel Evas Liebling ist.
Eva leidet darunter, dass der inzwischen fünfzigjährige Adam sie nicht mehr so begehrt wie früher und immer nur seinen täglichen Geschäften nachgeht. Sie selbst erkennt in ihrem Sohn Abel den jungen Adam und entwickelt erotische Fantasien. Kain in seiner unbefriedigten Begierde ist voller Eifersucht auf seinen Bruder. Es kommt zu sexuellen Annäherungen mit der Mutter in verschiedenen Konstellationen, auch zu dritt (nur Adam starrt still auf seinen Laptop). Der Regisseur Bieto inszeniert das alles – so wie man ihn kennt – ziemlich drastisch. Vielleicht soll es ja auch nur eine Andeutung der jeweiligen Fantasien sein. (Ich habe – gleichfalls gebannt – Bietos Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ 2004 in der Komischen Oper in Berlin gesehen: „Wo bleibt denn da Mozart?“ riefen damals sogar junge Opernpuristen. Andere ergingen sich in üblen Beschimpfungen: „Du Sau!“)
Nichts davon 2025 in der Amsterdamer Oper am kalten sonnigen Waterlooplein: Das Publikum tat während der Vorstellung keinen Mucks. Es war nicht empört, sondern betroffen, überwältigt und zu Tränen gerührt. Neben mir saß eine ältere Dame mit ihrem Mann, die manchmal in sich zusammensank und Halt suchte und sich dem Ganzen lieber entzogen hätte. Ich selbst war fasziniert, aber auch in wachsendem Maße fix und fertig von der Gewalt und Pracht des Geschehens.
Hinterher irrte ich nach einem Glas Sekt verstört zur Metro und auf dem kürzesten Weg zurück nach Groningen.
Zu Annette Dasch, der Urmutter Eva und zentralen Gestalt dieser Oper:
Annette Dasch ist nicht nur eine großartige Sopranistin, sondern auch eine große Schauspielerin und Artistin. Und das mit einer körperlichen Kraft, Eleganz und erotischen Präsenz die sprachlos macht. Fortwährend muss sie auf dem großen, mit Früchten und Blumen voll bedeckten Tisch auf hohen Hacken agieren, interagieren, laufen, sitzen, liegen, sich wälzen, hinuntersteigen. Sie muss mit blossen Händen Apfelsinen aufbrechen, auspressen, den Saft in Krügen auffangen, Honigmelonen an der Tischkante aufschlagen, das Fruchtfleisch ausbrechen und quetschen, und dann über lange Minuten hinweg, während sie weiter spielt und singt, einen großen Klumpen Ton mit ihren Händen zu halbmetergroßen Skulpturen formen und kneten: erst einen Penis, dann eine nackte Frau mit üppigen Brüsten, dann einen nackten Mann mit erigiertem Glied, für das sie demonstrativ zwei Bällchen für die Hoden rollt. Diese dritte Skulptur ergreift dann Kain, um in rasender Eifersucht seinen Bruder Abel zu erschlagen. Großes Drama! Große Kunst!
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Annette Dasch (Eva) und Leigh Melrose (Kain), Foto: Ruth Walz, Dutch National Opera |
Abels Leiche heben dann Adam, Eva und Kain gemeinsam, als ob es nichts wäre, vom Fußboden auf den Tisch. Dabei wiegt der wunderbare Tenor John Osborn, wenn ich mich nicht täusche, so ungefähr seine 90 Kilo!
Am Ende minutenlanger tosender Jubel und Applaus nach dieser letzten Vorstellung vor ausverkauftem Haus. Und so war es in allen Vorstellungen. Schade, dass nicht noch viele Tausend mehr diese unvergleichliche Inszenierung sehen konnten.
Sehr gerne hätte ich für meine Rezension auch die philosophisch-psychologischen Hintergründe dieser 1914 in Zeiten Freuds und entstandenen Oper berücksichtigt, aber das wird jetzt zu lang für einen Blogbeitrag. Vielleicht mache ich noch eine Fortsetzung.
Und natürlich müsste auch zu den musikalischen und sängerischen Aspekten etwas gesagt werden, wozu ich gar nicht die Kompetenz habe. Aber zu diesen Aspekten hat der niederländische Opernspezialist Peter Franken auf der Website Place de l'Opera eine Rezension geschrieben. Über die Darstellerin der Eva sagt er folgendes:
„Dasch ist eine phänomenale Schauspielerin mit ausgezeichneter Stimme – eine brillante Wahl für diese Rolle. Sie ist eine echte Bühnenpersönlichkeit. Tatsächlich ist Chawa die femme fatale der Oper, und Dasch verkörpert diesen Aspekt mit Bravour, unterstützt durch Bieitos Regie.“.
Ja, Annette Dasch ist für Bietos Art der Regie ein Glücksfall.
Ich habe Peter Frankens Rezension auf deutsch in den Anhang gesetzt. Wer sie lesen möchte, muss hier klicken:
ÜBERWÄLTIGEND – DIE ERSTEN MENSCHEN BEI DNO
Peter Franken · 23. Januar 2025 - Übersetzung aus dem Niederländischen: ChatGPT 4o
Die Nationale Opera bringt in dieser Saison Calixto Bieitos Inszenierung von Die ersten Menschen erneut auf die Bühne – einstudiert von Astrid van den Akker. Dies ist das einzige Musikdrama, das Rudi Stephan (1888–1915) in seinem kurzen Leben vollendete. Das Werk stand bereits 2021 während der Corona-Zeit mit all ihren Einschränkungen auf dem Programm.* Daher wurde nun beschlossen, es einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – eine sehr gute Entscheidung, denn das Werk verdient zweifellos mehr Bekanntheit. Die Premiere am 22. Januar wurde ein Triumph für alle Mitwirkenden.
Rudi Stephan – Ein Genie im Keim erstickt
1915 trat Stephan freiwillig dem großherzoglich-hessischen Kontingent der deutschen Armee bei – ein fataler Fehler, denn nur zehn Tage nach seiner Abreise aus Worms wurde er an der Ostfront von einem russischen Gegner durch einen Kopfschuss getötet. Ein vielversprechender Komponist wurde so in seiner Entfaltung gestoppt. Und Stephan war in der Tat vielversprechend: Bereits vor seiner Oper hatte er einige Orchesterwerke sowie Kompositionen für Solovioline und Kammerensembles geschaffen.
Seine Oper war sein erstes großes Werk, das gerade fertiggestellt war, als 1914 der Krieg ausbrach. Eine geplante Uraufführung Anfang 1915 musste abgesagt werden. Erst posthum gelang 1920 in Frankfurt eine erste Aufführung. Zwar folgten weitere Produktionen, doch Stephan geriet ins Hintertreffen gegenüber seinen lebenden Zeitgenossen, die weiter komponieren konnten – wie Franz Schreker, Erich Korngold, Alexander Zemlinsky, Alban Berg und nicht zuletzt Richard Strauss.
Doch Die ersten Menschen erweist sich als interessante Ergänzung zur Opernkultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Musik ist spätromantisch geprägt, und es lässt sich erahnen, dass Stephan sich stilistisch wohl in eine ähnliche Richtung wie Schreker entwickelt hätte.
GENESIS
Als Librettist nahm Otto Borngräber eine Episode aus der Genesis zum Ausgangspunkt, die den Beginn der Menschheit schildert. In der Oper ist Adam bereits Vater zweier erwachsener Söhne: Kain und Abel. Die Figuren treten hier als Adahm (Bass-Bariton), Chawa (Sopran), Kajin (Bariton) und Chabel (lyrischer Tenor) auf.
Adahm ist mit der Schöpfung gereift, er ist nicht mehr der attraktive junge Mann, in den sich Chawa einst verliebt hatte. „Aber dann kam die Zeit. Ich wuchs einfach weiter, und aus mir wuchs der Mensch“, singt er. Seine Welt ist die Arbeit – Ackerbau und Gartenbau entwickeln sich schließlich nicht von selbst. Chawa hingegen fühlt sich in einer hormonell gesteuerten Phase gefangen. Sie ist keineswegs alt, ihre Söhne sind junge Männer, und laut Bibel war die menschliche Lebenserwartung damals ohnehin höher. Kurz gesagt: Chawa fühlt sich eingeengt und benimmt sich in der Oper wie ein unersättliches junges Mädchen.
Der heutige Zuschauer – und hier unterscheidet er sich nicht wesentlich vom Premierenpublikum von 1920 – ahnt bereits, dass dies kein gutes Ende nehmen kann: Eine attraktive Mutter, die nur an eines denkt, und zwei frustrierte Söhne, die keine Frau finden können, weil sie laut religiöser Mythologie die einzigen Menschen auf der Welt sind – ein dysfunktionales Vier-Personen-Familiendrama.
EPIPHANIE
Chabel hat eine Epiphanie: Ein uraltes Wesen offenbart sich ihm – er nennt es Gott. Damit „erfindet“ er quasi die Religion. In evolutionsgeschichtlicher Perspektive entwickelt sich der Homo sapiens reflexus zum Homo sapiens reflexus religiosus. Sofort geht es in großen Dimensionen weiter: Ein Lamm muss geopfert werden, ein Tempel für dieses höhere Wesen soll errichtet werden.
Chawa findet kurzzeitig Erfüllung in dieser Verehrung, erkennt jedoch bald, dass sich ihr persönliches Leben dadurch nicht verbessert. Adahm hingegen schließt sich Chabels neuer Weltsicht vollständig an und ignoriert Chawa weiterhin. Kajin – der wilder und instinktiver als sein Bruder ist – lehnt das alles ab. Er will keine selbst erfundene Gottheit, sondern eine ungezähmte Frau.
Als Chawa im Dunkeln ihren Sohn Chabel mit dem jungen Adahm verwechselt und Chabel sich stark zu ihr hingezogen fühlt, eskaliert die Situation. Kajin, der schon länger von der sexuellen Anziehungskraft seiner Mutter fasziniert ist – die für ihn in Wahrheit die wilde Frau verkörpert, nach der er sucht –, verliert die Kontrolle, erschlägt seinen Bruder und schläft mit Chawa.
Dieser Moment gibt ihr zwar für einen Augenblick, was sie wollte, doch der Tod ihres Sohnes überschattet alles.
Die Katastrophe führt schließlich dazu, dass sich Chawa und Adahm wieder annähern – und gewissermaßen die Menschheit von vorn beginnen. Kajin wird in die Wildnis geschickt, wo er weiter nach der ungebändigten Frau suchen darf, die er so sehr begehrt.
PHÄNOMENAL
Bieito konzentriert sich ganz auf die sexuellen Konflikte und Neurosen zwischen Chawa und ihren Söhnen. Er inszeniert die Handlung hauptsächlich rund um einen großen Tisch – darauf, darunter, daran. Zu Beginn ist der Tisch mit Früchten und Blumen überladen. Annette Dasch als Chawa bewegt sich sinnlich über den Tisch, während Adahm nur Augen für seinen Laptop hat.
Dasch ist eine phänomenale Schauspielerin mit ausgezeichneter Stimme – eine brillante Wahl für diese Rolle. Sie ist eine echte Bühnenpersönlichkeit. Tatsächlich ist Chawa die femme fatale der Oper, und Dasch verkörpert diesen Aspekt mit Bravour, unterstützt durch Bieitos Regie.
Kyle Ketelsen (Bass-Bariton) spielt den distanzierten Familienvater im Dreiteiler, der kaum Interesse an den familiären Problemen zeigt. Seine Söhne erscheinen zunächst makellos in Smoking gekleidet, doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto chaotischer wird alles – nicht nur auf der Bühne, sondern auch in ihrer Kleidung.
Der Bariton Leigh Melrose gibt einen meisterhaft gestalteten Kajin – das verstoßene Kind. In der Genesis wird sein Opfer zurückgewiesen, während das seines Bruders angenommen wird. In dieser Inszenierung ist es jedoch die elterliche Bevorzugung von Chabel, die ihn in den Wahnsinn treibt.
Der Tenor John Osborn überzeugt als Chabel mit seiner feinen, weltentrückten Interpretation und exzellentem Gesang.
Das Orchester spielt auf dem hinteren Teil der Bühne, hinter einem durchscheinenden Vorhang. Dies erschwert die Wahrnehmung von Gesang, Orchester und Handlung gleichzeitig – insbesondere bei einem Werk, das den meisten Zuschauern unbekannt ist.
Stephan schreibt für ein großes Orchester in einer Klangsprache, die an Wagner und Strauss erinnert, aber auch Anklänge an Schreker und Berlioz aufweist. Besonders das Klangbild der Ouvertüre von Schrekers Die Gezeichneten vermittelt eine Vorstellung von Stephans Musik.
Das Rotterdams Philharmonisch Orkest unter der Leitung von Kwamé Ryan erweckt die Partitur auf herausragende Weise zum Leben.
Die ersten Menschen bei DNO ist ein großartiges Theatererlebnis, das kein Opernliebhaber verpassen sollte.
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