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Donnerstag, 26. November 2020

Nietzsche (18): Vom Ertragen der Gegensätze

Die Philologen haben Nietzsche nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, ihn zu verstehen. (P.G.)

 

Friedrich Nietzsche wurde 1844 geboren und starb nach einer mehr als zehnjährigen Periode des Wahnsinns im Jahre 1900. Er war mit Leib und Seele ein Mann des 19. Jahrhunderts, auch wenn er meinte, der Welt die Philosophie der Zukunft geschenkt zu haben.

 

Nietzsche war in vieler Hinsicht auf der Höhe seiner Zeit, nur in den Naturwissenschaften glaubte er noch weiterer Studien zu bedürfen. Zu diesem angestrebten zehnjährigen Sabbatical ist er aber nicht mehr gekommen. Seinen ungewöhnlichen Plan jedoch, nach dem von ihm verkündeten Tode Gottes aus der Philosophie eine den modernen Naturwissenschaften anempfundene Experimentalwissenschaft zu machen, hat er – auf seine Weise - verwirklicht. Die Grundlagen hierfür bezog er aus einem Bereich, der ihm zutiefst vertraut war: der genialischen Frühgeschichte seines Jahrhunderts mit dem deutschen Klassizismus und der romantischen Universalpoesie. Um Nietzsche zu verstehen, muss man nicht ins 20. oder gar 21. Jahrhundert blicken, sondern auf die drei, vier Jahrzehnte um das Jahr 1800 herum: auf Goethe, Herder und Hamann, auf Friedrich Schlegel, Novalis und Fichte. Schließlich - und das sollte man nie vergessen: Er war ein Philologe!

 

Allerdings: ein Abtrünniger! Die Philologie war ihm nicht genug. Nach seiner frühen Professur für Klassische Philologie in Basel strebte er eine Professur für Philosophie an, um eine bessere Basis für sein Projekt einer poetischen Philosophie zu bekommen. Die hat er nie erhalten, und so begann er eine Existenz als wandernder freier Denker. Er wollte Natur und Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammenführen. Das entsprach der Logik aus dem Tode Gottes: der Mensch wird aus der Metaphysik in die radikale Immanenz geworfen und dadurch verpflichtet, sich selbst zu erschaffen.

 


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Ernst Behler, einer der deutschen Spezialisten auf dem Gebiet der Frühromantik, hat  auf diese Zusammenhänge hingewiesen:

 

„So entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in dieser Schule erstmals das, was Walter Benjamin als ‚unendliche Reflexion‘ bezeichnet hat – eine Reflexion, bei der das Denken im Selbstbewusstsein unaufhaltsam über sich selbst reflektiert und in der Unendlichkeit seiner Potenzenreihen zu immer höherer Selbsterfassung zu gelangen strebt. Die in dieser Reflexion erfahrenen Gegensätze und Widersprüche sollen nicht in einer Synthese aufgehoben werden, sondern den Stachel für die Bewegung des Geistes bilden, der sich in einem ‚Schweben‘ zwischen den Antinomien und einem ständigen Wechsel zwischen den Antithesen entfaltet und reicher wird. In der kunstvollen Darstellung seiner selbst sollte dies grenzenlose Denken Einheit und Zusammenhang finden – in einer Darstellung freilich, die nicht in einem Wurf gelingt, sondern notwendigerweise fragmentarisch ansetzt und in immer größeren Kreisen über sich hinauswächst.“ (Behler, Nietzsche und die frühromantische Schule, 82)

 

Die „Gegensätze und Widersprüche“ werden zum „Stachel für die Bewegung des Geistes“.

 

„Für Novalis repräsentiert sich dieser Denktyp in dem, was er den ’echten Gelehrten‘, den ‚vollständig gebildeten Menschen‘ nannte. Alles, was dieser sagt, so führt Novalis sein Portrait aus, ‚muss ein artistisches, technisches, wissenschaftliches Produkt oder eine solche Operation sein. Er spricht in Epigrammen, er agiert in einem Schauspiele, er ist Dialogist, er trägt Abhandlungen und Wissenschaften vor – er erzählt Anekdoten, Geschichten, Märchen, Romane, er empfindet poetisch …‘“ (Behler 83).

 

Dieses Novalis-Zitat liest sich wie das Programm der poetischen Philosophie, die Nietzsche in den achtziger Jahren weiterentwickelt hat. Was ihn allerdings von der Frühromantik unterscheidet, ist seine Ablehnung jeglicher Art von Geschichtsteleologie. Schon 1873 hat er sich hierzu geäußert: „Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentieren“ (KSA 7, S.649). Während die Romantiker mit ihrer Utopie vom Goldenen Zeitalter einen metaphysischen Standpunkt vertreten, vertritt Nietzsche eine radikale Position der Immanenz. In den achtziger Jahren hat er sich entschieden von den Romantikern abgewendet (vgl. KSA 12, 454). Er selbst sieht sich nicht in der Tradition der Romantik, sondern als originellen, schöpferischen Denker. Deshalb trifft man bei ihm auch selten die philologische Tugend, die Entwicklung seines Denkens mit Zitaten von Vorgängern zu belegen. Das erschwert den Zugang insbesondere zu seinen poetischen Werken zum Teil erheblich. Ein Beispiel ist das Gedicht „Dichters Berufung“ aus den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“, für das Guilia Baldelli die Abhängigkeit von Goethe und der Epigrammtradition des 18./19. Jahrhunderts belegt hat (siehe meinen Beitrag Nietzsche 17). In „Scherz, List und Rache“ und „Lieder des Prinzen Vogelfrei“, dem lyrischen Vor- und Nachspiel von „Die fröhliche Wissenschaft“, gibt es weitere Goethebezüge, die in den Artikeln von Benne und Detering analysiert werden.

 

„Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt; denn er kann ihn all das sagen lassen, worauf er selber aus ist“ (Giorgio Colli). Tja, was dann? Darauf sind wir Philologen ja nun einmal getrimmt! Die Lagerbildung in der Beurteilung Nietzsches ist darauf zurückzuführen, dass er in seiner Zeit ein völlig neuer Typ Philosoph war. Alle deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts hatten ein System zur Welterklärung, also suchen alle auch bei Nietzsche nach einem System und wenn sie keins finden, unterstellen sie ihm eins, machen ihn zum Dogmatiker und benutzen dafür eifrig Zitate. Aber Nietzsche hatte kein System! Mit Zitaten kann man bei ihm alles beweisen (oder eben nichts!). Warum ist das so?

 

Gibt es typisch nationale und generationsspezifische Rezeptionen von Nietzsches Werk? Stehen also zum Beispiel die Interpretationen von Deleuze, Foucault und Derrida für die Rezeption der Generation der französischen Postmoderne, die bei Nietzsche allerlei finden zu können meinte, was in den Rahmen ihrer nationalen Philosophie passte? Und ähnlich bei der amerikanischen Philosophie (Arthur Danto, Richard Rorty, Hilary Putnam) und beim internationalen Kommunismus (Georges Lukács, Domenico Losurdo)? Das hieße ja auch, dass Nietzsche in den jeweiligen National- und Machtkulturen für bestimmte, aber divergierende Zwecke besonders gut geeignet war, gerne auch als Bösewicht. 

 

Mit keinem Philosophen ist das leichter zu erreichen als mit Nietzsche: das liegt an der spezifischen Eigenart seines Philosophierens. Das nimmt nicht weg, dass es sich dabei um unbewusste, halbbewusste oder gar mutwillige Falschinterpretationen seines Werkes handeln kann. Ich kann diese Fragen nicht beantworten, aber ich vermute, dass da etwas dran ist.

 

Und natürlich ist dann auch die Frage interessant: wie sieht es mit der deutschen Rezeption Nietzsches aus? (Und wie mit der niederländischen?)

Was die deutsche Rezeption betrifft, ist hinlänglich bekannt, wie das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesehen hat, aber was ist mit den fünfzig Jahren seit 1970? Die deutsche Nietzsche-Forschung war und ist sehr produktiv, aber gibt es so etwas wie einen roten Faden, ein Grundmuster des (nota bene: westdeutschen) Lesens und Verstehens?

 

Nach etwa zwei Dutzend Stichproben bei renommierten Nietzsche-Experten an deutschen Universitäten und Institutionen schält sich für mich ein Bild heraus. Dabei geht es vor allem um Nietzsches Erkenntnistheorie: Es gibt kein System oder Dogma, Nietzsches Denken, Fühlen und Schreiben hat eine besondere Methode, die er in seinen Werken gründlich ausgearbeitet hat. Das Verständnis dieser Methode ist mit verschiedenen Begriffen einzukreisen: Perspektivismus, Experimentalphilosophie, Philosophie der Gegensätze, Philosophie hinter Masken. Safranski hebt in seiner Biographie das augenöffnende Wort „Dividualität“ hervor (das übrigens von Nietzsche selber stammt), Lou Andreas Salomé spricht von „Selbstspaltung“ und „Doppel-Selbst“. In der deutschen Nietzscheforschung der letzten fünfzig Jahre sind diesen Begriffen und ihren Hintergründen teilweise ganze Monographien gewidmet worden. Hier sind einige Zitate dazu:

 

„In der Formel von der ‚Experimental-Philosophie‘ ist ein umfassendes Verständnis der Philosophie umrissen, das ihr einen Platz im Zusammenhang der modernen Wissenschaft zuweist. Die in den Naturwissenschaften so erfolgreiche Methode des Experimentierens, die schon längst zur Metapher für den geschichtlichen Gang des Menschen im Großen wie auch im Einzelnen geworden ist, wird ausdrücklich auf die sogenannte Geisteswissenschaft übertragen“ (Gerhardt, Nietzsche 136).


In der neueren Forschung gibt es mehrere Analysen zur Gegensätzlichkeit im Werke Nietzsches. Ein Beispiel dazu gibt Andreas Urs Sommer in seinem Artikel "Nietzsche mit und gegen Darwin in den Schriften von 1888" (in: Nietzscheforschung Band 17, 31-44, auch bei ACADEMIA).


Dies wird jetzt für einen Blogbeitrag arg lang, deshalb ende ich mit einem Zitat von Karl Jaspers:


„Nietzsche zu lesen gilt manchem als leicht; wo man ihn aufschlägt, kann man ihn unmittelbar verstehen; fast auf jeder Seite ist er interessant; seine Urteile faszinieren, seine Sprache berauscht; die kürzeste Lektüre belohnt. Jedoch entstehen schon Störungen, wenn man, stehen bleibend bei solchen Eindrücken, viel lesen will; die Begeisterung für den unmittelbar ansprechenden Nietzsche schlägt in Abneigung gegen ein scheinbar unverbindliches Vielerlei um; immer anderes bei ihm zu lesen wird unerträglich. So aber wird weder ein wahres Verständnis noch die rechte Schwierigkeit erreicht“ (Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin und Leipzig 1936, aus dem Vorwort). 

Nicht ohne Grund wählte Karl Jaspers für sein Nietzsche-Buch den etwas umständlichen Titel „Einführung in das Verständnis seines Philosophierens“ (statt es einfach „Einführung in seine Philosophie“ zu nennen). Das ist dem Umstand geschuldet, dass Nietzsche zu verstehen den Abschied von geläufigen akademischen Leseroutinen erfordert. Jaspers‘ Buch ist immer noch eines der besten, um dieses Verständnis zu erreichen.





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