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Freitag, 12. September 2014

Heimaufnahmen

Vor ein paar Jahren ging uns ein kleines gerahmtes Bild zu Bruch. Ich weiß nicht mehr, was es war, irgendwas aus dem Trödel. Als ich den zerbrochenen Rahmen und das Glas entfernte und das Bild von dem Karton löste, auf dem es befestigt war, entdeckte ich auf der Rückseite des Kartons ein anderes Bild, das mich sofort faszinierte: nichts Besonderes, kein kostbarer Stich oder so, sondern ein kleines deutsches Reklameposter aus den fünfziger oder frühen sechziger Jahren, auf das ich mir absolut keinen Reim machen konnte: eine Werbung für Osram-Glühbirnen mit dem schrägen Schwarz-Weiß-Foto einer rauchenden jungen Frau, deren Gesicht leicht angeschmutzt war, wie das eines Bergwerkkumpels. Dazu der Text: „Osram-Nitraphot für Heimaufnahmen".


Im Internet findet man dann heraus, dass Osram-Nitraphot offenbar eine legendäre starke Glühbirne für Schmalfilmaufnahmen und professionelle Fotografie war, aber die junge Frau blieb mir ein Rätsel. Sie strahlte Aufsässigkeit und Widerstand aus. Das gefiel mir. Wegen des merkwürdigen Kontrasts ließ ich das Bild neu rahmen und suchte einen passenden Ort: Es hängt seitdem in unserer Küche in Groningen.

Ein paar Wochen nach meinem Fund ging ein neues Thema durch die deutsche Presse: Eine Interessengemeinschaft ehemaliger Heimkinder hatte sich zu Wort gemeldet, eine neue Gruppe im immer anwachsenden Opferdiskurs zum Zweiten Weltkrieg. Und auch sie meldet, man ahnt es, einen Anspruch auf Entschädigung an. Nach dem Krieg gab es hundertausende von Waisen und in ihrem Sozialverhalten geschädigten Kindern, die rigoros in Heime verschiedener Organisationen eingewiesen wurden. Sie wurden dort von schwarzen Pädagogen der besonderen Art empfangen, behandelt und verwaltet; es muss ziemlich schrecklich gewesen sein. Dass diese Gruppe jetzt verstärkt an die Öffentlichkeit tritt, hat seine generationsspezifische Logik: vor fünfzehn Jahren waren es die von den Russen vergewaltigten Frauen, die fünfzig Jahre danach zum Sprechen über das Geschehene gefunden haben, jetzt ist es die Gruppe der im Laufe der fünfziger Jahre zwangseingewiesenen und misshandelten Heimkinder, die ein Bedürfnis zur öffentlichen Artikulation entwickelt hat.

Für mich war das die Aufklärung eines Rätsels. Dass das Poster irgendwie ironisch gemeint war, ist mir schon klar gewesen, dass es aber angesichts dieses Hintergrunds doch einen ziemlich widerlichen Zynismus beinhaltet, musste ich erst verdauen. Die Aufklärung des Hintergrunds vermindert nicht die kuriose Intensität des Bildes, im Gegenteil: Es darf hängen bleiben.

Diesen Bericht habe ich soweit vor etwa sechs Jahren in meinem alten Blog geschrieben. Inzwischen hat sich die Thematik in den Medien mehr in den Bereich sexueller Misshandlung von Heimkindern in der Nachkriegszeit verschoben.

Da ich das Bild jetzt mit nach Berlin genommen habe und ich das vermeintliche Heimmädchen jeden Tag in unserer kleinen Küche sehe, will ich noch eine kleine Fortsetzung schreiben:

Meine Interpretation von „Heimaufnahme“ im Zusammenhang mit diesem Reklameposter stieß in meiner Umgebung auf heftigen Widerspruch (ohne dass man eine andere Lösung angeboten hätte). Hier sei deutlich ein Fall von „Hineininterpretieren“ gegeben.

Ich ließ das nicht auf mir sitzen und schrieb an die Werbeabteilung von Osram in München, in der Hoffnung, dass es dort ein anständiges Archiv mit sachverständigen Leute gäbe. Leider konnte man mir aber keine Auskunft zu meinem Bild geben.


Jetzt liegt meine Hoffnung noch bei einem Berliner Freund, der als Kunsthistoriker in der Plakatsammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums gearbeitet hat. Aber ich bin natürlich auch auf Kommentare aus der Leserschaft von Café Deutschland gespannt. Fortsetzung folgt?

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