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Sonntag, 23. Juni 2013

Das fliegende Pferd - Kafka und Karl May auf Augenhöhe

Kafkas Kurzgeschichten, das wissen wir, sind vieldeutig; darin liegt ihr Reiz, darin liegt auch viel Ratlosigkeit bei seinen freiwilligen und unfreiwilligen (Schüler!) Lesern.

Der Reiz bleibt, auch bei vielfachem Wiederlesen. Einen dieser ganz kurzen Texte habe ich immer wieder erlebt wie einen Film; die Bilder sind deutlich: ein Anlauf, ein Galoppieren, ein Vibrieren des Körpers und der Umgebung, ein Abheben, ein Fliegen und unter mir die Landschaft. Und doch blieb er mir immer ein Rätsel:
Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. (1912)

Man muss sich Kafkas Texte aber sehr nahe an ganz realen Erfahrungen und Faszinationen vorstellen, eben nicht als Visionen eines einzelnen hypersensiblen Genies, sondern als Ausdruck einer allgemein erfahrbaren Sensation der Jahrzehnte um 1900, die von vielen geteilt wurde. Und das Spannendste in dieser Zeit  war das Fliegen. Der Mensch lernt fliegen!
Kafka hat sich dafür sehr interessiert, ist zu Flugshows gegangen. Sein Bericht „Die Aeroplane in Brescia“ von 1909 zeugt davon.
Franz Kafka (links) mit Bekannten

Aber auch schwächer begabte Schriftsteller kommen zu ähnlichen Formulierungen und das schon zwanzig Jahre vor Kafka (ja, da wurde auch schon geflogen!):
Ich trieb meinen Rappen an, der . . . wie ein Vogel dahinflog. Das Pferd läuft nicht, sondern es fliegt. Man kann kaum die Beine sehen, so groß ist die Schnelligkeit. Es war jetzt kein Ritt, kein Jagen mehr, sondern ein Fliegen zu nennen.

Diese Sätze stammen von Karl May. Sie sind allerdings - so wie sie hier stehen - von einem Literaturwissenschaftler aus verschiedenen Werken Karl Mays der neunziger Jahre zusammengestellt worden. Das ist nachzulesen in dem hochinteressanten Artikel von  Dieter Sudhoff, „Der beflügelte Mensch. Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May“.
Ich habe in all den Jahren, in denen ich immer wieder mal diesen Kafka-Text gelesen habe, nie an die Flugversuche jener Zeit gedacht. Auf einmal erscheint mir das aber sehr einleuchtend.

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